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Vom Wegwerfen zum Wertschätzen: Über Nachhaltigkeit und soziale Gerechtigkeit mit dem Müll Museum Soldiner Kiez

Direkt ein Jahr nach der Gründung kam die Pandemie und für die Gründer:innen Lena Reich und Susanne Schulze-Jungheim des Müll Museum Soldiner Kiez – wie für so viele – die Ungewissheit. Mit einem klugen Konzept und vielen Workshops hat es das Museum dennoch geschafft, weiter zu bestehen, sich noch tiefer im Kiez zu verankern: Im März 2023 hat das Müll Museum im Soldiner Kiez nun sein vierjähriges Bestehen gefeiert. Der große Erfolg liegt sicherlich an der klugen Kombination aus Bildungsarbeit, Klimaschutz und Kunst und Kultur sowie Vertrauensarbeit. Und an einer gezielten Zusammenarbeit mit dem Kiez und seinen Gegebenheiten: So führten die Aktiven im Museum Impfaktionen durch – mit Informationsangeboten auf mehr als zehn Sprachen.

Ein Gespräch mit Susanne Schulze-Jungheim über, das, was gesellschaftlich weniger Wert hat, die Wichtigkeit der Partizipation und wie man Kunst und soziale Fragen zusammendenken kann.

Liebe Susanne, was ist das Müll Museum?

Lena kam mit dieser Idee auf mich zu, um unsere bisherige Arbeit im Kiez zu bündeln und sie größer zu denken. Im Museum stellen wir die künstlerische Auseinandersetzung mit Müll, der auf dem Boden rumfliegt, aus, bis hin zu Aufarbeitungen von Kriegsgeschichten. Und natürlich haben alle Kunstwerke eine Intention, eine Geschichte. Mit dem Museum fragen wir: Wieso ist auf unseren Straßen alles verdreckt? Aber auch: Wer gehört in die Gesellschaft? Wer ist am Rand der Gesellschaft – und ja, wen sieht die Gesellschaft als weniger wertvoll – als Müll?

Wie entsteht die Kunst hier im Müll Museum?

Wir haben nicht die Prämisse, dass wir hier im Kiez Müll sammeln. Unsere Prämisse ist, dass wir anhand dessen, was wir so um uns herum haben, die Fragen und Problematiken auch für Kinder und Erwachsene aus anderen Kiezen, Gegenden, mit anderen Hintergründen angehen. Am Anfang kamen auch zwei junge Mädchen zu uns, die fragten, ob sie nicht etwas ausstellen können. Sie haben zu einer müllfreien Klima-Utopie gearbeitet. Diese Arbeit haben wir dann ausgestellt, eine kleine Vernissage veranstaltet. Das ging vom Platz her – wir bekommen aber so viele Anfragen von tollen Künstler:innen, denen wir aber allen nicht gerecht werden können.

Ihr gebt auch Workshops. Wie gestaltet ihr sie aus?

Wir arbeiten mit Schulen aus ganz Berlin, nicht nur mit umliegenden Schulen. Die Klassen kommen dann zu uns, besuchen uns hier und machen Workshops. Wir hängen keine Zettel und Begleittexte neben die Kunstwerke, die den Leuten erklären, was sie sehen, welches Material es ist und mit welcher Intention die Dinge geschaffen wurden. Im Gegenteil. Unser Ansatz ist, dass Leute, die herkommen, die Kunst selber erklären. Kinder können sich ein Kunstwerk aussuchen. Sie machen dann eine Kunstbetrachtung – die wir natürlich nicht so nennen – und machen sich zu ihrem ausgesuchten Kunstwerk Notizen. Dabei können sie herumgehen, die Exponate anfassen, hochheben. Und dann aus ihrem eigenen Gefühl, ihrer eigenen Interpretation erzählen, weshalb diese Gegenstände im Müll Museum sind.

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Wird das angenommen?

Nach den vier Jahren kann ich sagen, ja, die Herangehensweise ist erfolgreich. Kinder kommen gerne wieder, Leute bedanken sich, dass ihnen zugehört wird, sie mal nach ihren Eindrücken und Ideen gefragt werden, ihre Gedanken teilen können. Sie werden selber zu Kurator:innen und Kuratoren. Sie bringen uns auch neue Sichtweisen. Mit dieser Methode holen wir die Leute dort ab, wo sie stehen. Und das sind natürlich ganz unterschiedliche Positionen. So kommt man dann im Gespräch über Kunst und Müll im Kiez zu Klima im Kiez, zu Rollen im Kiez, zu Zuschreibungen von außen und zu großen gesellschaftlichen Fragen.

Kannst du ein Beispiel nennen?

Einmal war eine polnische Studentin hier, die zu dem Digital-jesus-Exponat meinte, es würde Religion lächerlich machen – und das unter dem Dach einer Kirche. Auch einige arabische Jugendliche haben gefragt: Wieso stellt ihr euren eigenen Gott so lächerlich dar? Das Kunstwerk hatte aber einen ganz anderen Hintergrund: Es zeigt die Perspektive Obdachloser, sie haben am Straßenrand gesessen und haben nur Leute an sich vorbeigehen sehen, die im Internet am Smartphone unterwegs waren, die sie gar nicht gesehen haben. Und dann haben sie selber gesagt: Das ist ja wie eine neue Droge, wie eine neue Religion. Daraus haben sie das Exponat geschaffen, über das wiederum Diskussionen entstehen: was macht die digitale Revolution mit unserem sozialen Miteinander? Und woher kommen überhaupt die Rohstoffe?  

Kommt es auch mal zu wirklichen Konflikten, zu Kontroversen bei euch im Müll Museum?

Nein. Wir sind in der Regel zu zweit in Workshops, wenn jemand der Besuchenden ein Problem hat oder sich unwohl fühlt, dann können wir die Person immer auch gut zur Seite nehmen und mit ihr sprechen. Im Alltag gibt es den meisten Kommunikationsbedarf eher mit der Verwaltung. Dort sitzen auch nur Menschen und machen ihre Arbeit, aber es kostet eben viel Zeit und Energie, sich mit allen Ämtern und Regularien auseinanderzusetzen, zum Beispiel mit dem Grünflächenamt, wenn wir im öffentlichen Raum ein Projekt gestalten wollen.

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Habt ihr Sorge, dass diese Arbeit schwieriger wird mit einer neuen konservativen Landesregierung?

Natürlich haben wir Bedenken, dass bestimmte Sachen weniger laufen werden, aber das Problem gibt es ja jetzt schon, zum Beispiel wenn Leute in der Verwaltung fehlen und dort Stellen über Monate nicht besetzt werden, wenn Gelder nicht ausgezahlt werden und so Leute ihre Miete nicht bezahlen können, wichtige Projekte im Kiez auf Eis liegen. Die Schwierigkeit ist auch immer, die gutfunktionierenden Projekte, wie etwa der Gesundheitsraum in Bochum, der sich für Umweltgerechtigkeit einsetzt, in die Regelfinanzierung zu bekommen. Auch da krankt es sehr an der überlasteten Bürokratie. 

Bist du darüber manchmal wütend oder frustriert? Dass ihr viel Arbeit leistet, für die andere in Politik oder Verwaltung gewählt und bezahlt werden, sie aber von Ehrenamtlichen getragen werden müssen?

Natürlich haben wir manchmal Wut über den Mülldiskurs und auf die verkrusteten Strukturen. Wir werden vom Sozialen Zusammenhalt gefördert, also vom Quartiersmanagement bezahlt, und versuchen, so viel wie möglich unser lokales Netzwerk mitzufinanzieren. Dem QM wird nachgesagt, er würde die Gentrifizierung fördern. Wir sehen uns nicht als Teil der Kreativwirtschaft, beäugen aber den gesamten Diskurs kritisch. Es ist erstaunlich, wie viel Ehrenamtliche sich im Kiez und anderswo engagieren, sei es bei der Tafel, in der Sozialberatung, Flüchtlingshilfe oder versuchen, die stets überquellenden Mülltonnen zu managen, während sich Wohnkonzerne auf diesem „Engagement“ ausruhen und sich jeder Verantwortlichkeit ihrem Eigentum gegenüber entziehen. Derzeit sind wir auch auf der Suche nach einem Förderer, damit wir auch in den nächsten Jahren unsere Nachbarn im Müllangelegenheiten unterstützen können und gemeinsam darauf achten, dass wir alle hier noch wohnen, wenn alles sauber und schön ist.


Ihr seid auch viel auf den Straßen unterwegs. Was erfährt man da?

Als Theaterpädagogin spiele ich mit den Kindern, genieße ihr Vertrauen und arbeite auch eng mit den Familien und Jugendamt zusammen. Oft macht es mich traurig bis ohnmächtig, wenn klar ist, dass da Gelder für Mediationsangebote und Personal fehlen. Das ist ein systematischer Fehler. Konkret: die obere Ebene bekommt im Kiez Anweisungen vom Bund, die von Ehrenamtlichen und Aktiven hier nicht verstanden werden. Oder von oben kamen auch mal keine Gelder. Dadurch wurde die Corona-Krise für viele Leute hier nur verlängert. Natürlich kann man auf die Regierung in Berlin schimpfen, und obwohl ich meine Wut natürlich nicht wegstecken möchte, packe ich diese Energie in unsere Projekte. 

mehr zu sozialer und ökologischer Nachhaltigkeit gibt es hier. Mehr zum Thema Müll und Kunst gibt es auch hier.

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