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„Fast Fashion Konzerne haben keine andere Chance, als ihr Geschäftsmodell radikal zu ändern“: Angie vom Upcycling-Label Therapy Berlin

Therapy Recycle and Exorcise von Angie und Paula ist ein ein Upcycling-Mode-Projekt in Berlin und Córdoba, Argentinien. 2022 hat das Label seinen 10-jährigen Geburtstag gefeiert, das lange Bestehen und der Erfolg verwundern nicht: Angie und Paula upcyclen Textilien, aber auch andere Teile wie Taschen, Schuhe und Schmuck. Dabei ist alles einzigartig, ausgefallen und hat seinen ganz besonderen Look.
Ein Gespräch mit Angie von Therapy Berlin über Upcycling, Müll, Kreativität, Bildung und darüber, den Spieß einfach mal umzudrehen.

Wie kam’s, dass du vor 10 Jahren schon mit Therapy als Upcycling-Label angefangen hast, obwohl das Thema Nachhaltigkeit noch gar nicht so präsent war?

Wahrscheinlich habe ich gar nicht vor 10 Jahren schon angefangen, sondern vor 25 Jahren durch meine Oma. Ich glaube, dass es in Argentinien und in vielen Orten auf der Welt normal ist, Sachen in Familien wiederzuverwenden. Meine Oma hat für uns viel Kleidung verändert. Ich habe eine ältere Schwester, sie hat ihre Kleidung für mich geändert und meine für meine kleine Schwester. Aber natürlich war auch das Interesse meinerseits da. Ich habe immer in der Garderobe von meiner Oma und meiner Mutter geguckt, was es gibt und was man damit anstellen kann. Mit meiner Oma habe ich dann auch gelernt zu nähen und vor allem, alte Materialien wiederzuverwenden.

Du hast gesagt, an vielen Orten der Welt ist es normal, wiederzuverwerten. Wie findest du es hier, in Deutschland und Berlin?

Es gibt Unterschiede zwischen den Ländern. Aber auch hier gibt es Möglichkeiten der Wiederverwendung: Sie sind nur anders. Ich konnte Therapy hier als Projekt verwirklichen, als ich die ganzen Flohmärkte gefunden habe, das gab es bei uns nicht oder war zumindest sehr selten. Bei uns gab es in Kirchen Garderoben für die armen Leute. Wiederverwertung war also für die Armen gedacht, nicht für alle. Jetzt gibt es in Argentinien mehr und mehr davon, auf Ferias. Dort verkaufen die Leute ihre eigenen Sachen an andere.

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Gibt es noch andere Unterschiede im Konsumverhalten?

In Argentinien war Kleidung immer sehr teuer. Jetzt haben wir leider auch Fast Fashion bei uns, das gab es in den Neunzigern zum Beispiel gar nicht. Jetzt – auch mit der Inflation, in der insbesondere Essen und Kleidung sehr teuer geworden sind – müssen viele Menschen doppelt überlegen, wo sie Kleidung kaufen. Aber Krisen eröffnen auch Möglichkeiten und kreatives Denken. Die Leute sind offener dafür geworden, Second Hand auch als Chance zu begreifen.

Wo kann man einen Anstieg an Kreativität beobachten?

Ich glaube, dass viel Kreativität durch Instagram angefangen hat. Argentinien ist eines der Länder, in denen die Leute am meisten auf Social Media online sind – weltweit. Die jungen Leute sehen, dass Vintage auch Trend sein kann und fangen an, selber Projekte zu starten.

Wie gehst du denn an deine Upcycling-Projekte heran?

Oft kollaborieren wir mit anderen Künstler*innen zusammen, bei aktuellen Teilen zum Beispiel mit einem Performer. Er bekommt viele Sachen geschenkt und alles, was er nicht benutzt, gibt er an mich weiter. Aber ich arbeite hauptsächlich mit Resten, die sonst weggeworfen würden, zum Beispiel bei Leder. Die Fabriken in Argentinien stanzen aus dem Leder das aus, was sie brauchen. Wir verwenden dann die Reste für Teile mit Cut-outs. Wir nehmen den Müll von anderen und machen daraus Kleidung. Man nimmt das, was da ist und macht das Beste daraus – das ist Upcycling. Alles hat einen Wert. Auch das meiste der Hardware ist recycled, bis auf die Ketten.

Deutschland exportiert ja viel alte Kleidung und Plastikmüll in andere Länder. Deshalb finde ich den Gedanken zu sagen, wir nehmen Produkte, die Deutschland eigentlich weghaben möchte, bringen sie wieder zurück und machen daraus etwas Neues, super spannend.

Ja, das ist sehr symbolisch. Und zeigt auch, dass man Sachen nicht weggeben muss, sondern sie noch weiterbenutzen kann. Argentinien importiert keine alte Kleidung, aber Chile zum Beispiel. Von dort sind auch die Bilder aus der Atacama-Wüste viral gegangen: Die importierten Textilien, die sich nicht verkaufen, landen millionentonnenweise dort. In Argentinien gibt es das zum Glück nicht, Argentinien importiert keine Alttextilien. Für meine Schwester ist es deshalb manchmal schwieriger, Material zu finden. Vor allem aus einem guten Grund: Die Menschen werfen ihre Kleidung nicht weg, sondern behalten sie im Umlauf und benutzen sie lange Zeit.

Letztes Jahr sind wir aber zum Beispiel an auf argentinischer Seite an die bolivische Grenze gereist, wo es mehr Second-Hand-Märkte gibt. Riesige Hallen von Textilmüll, Müll, Müll aus dem Norden. Für uns ist das natürlich kein Müll – also habe ich vieles gekauft und es wieder hergebracht. Aber das ganze Jahr über ist die Prämisse für sie und mich, das Material vor Ort zu beziehen, um den Kohlenstoff-Fußabdruck des Prozesses nicht zu vergrößern und es so lokal wie möglich zu machen. So gibt es inzwischen einige Messen, auf denen Paula in ihrer eigenen Stadt oder Provinz Kleidung findet.

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Was sagst du zu niedrigschwelligen Upcycling-Angeboten, in denen man zum Beispiel lernt, aus Milchkartons kleine Schälchen zu basteln? Hat das auch einen Wert?

Das finde ich auch schön. Ähnliche Sachen habe ich auch viel gemacht. Mehr als Designerin bin ich „Maker“. Ich hatte in Argentinien schon eine Schmuck-Brand und habe quasi aus allem andere Dinge hergestellt. Auch unser eigener „Müll“ ist kein Müll. Wir sammeln alles, was wir momentan vielleicht nicht brauchen und warten darauf, dass sich eine Gelegenheit ergibt, die Sachen zu benutzen, zum Beispiel für einen Photoshoot.

Wenn es jetzt mehr Angebote gibt – auch über Social Media – ist das dann Konkurrenz für dich? Oder im Gegenteil, weil ihr ja alle für das gleiche Ziel arbeitet?

Damals, als wir angefangen haben, gab es zum Beispiel noch den Mode-Stammtisch, durch den habe ich so viele Leute kennengelernt. Ich habe dadurch Fashion Revolution entdeckt und dort fünf Jahre lang mitgewirkt. Da habe ich super interessante Leute kennengelernt und mit ihnen zusammengearbeitet. Ich habe in der Gründung von den Green Fashion Tours mitgewirkt, es gab einen sehr schönen Raum der Vernetzung. Das war eine sehr gute Möglichkeit, sich zu treffen und andere Projekte kennenzulernen. Für mich ist deshalb der Austausch und sind andere Projekte keine Konkurrenz, sondern unglaublich wichtig und empowernd. Davon wünsche ich mir wieder mehr, aber habe derzeit selber nicht so viel Zeit für so eine Initiative zu starten, würde es aber gerne mit anderen zusammen machen.

Gibt es etwas, das sich Fair Fashion in den nächsten Jahren noch mehr trauen muss, obwohl wir auf einem guten Weg sind?

Es ist sehr viel passiert. Lange waren nachhaltige Mode und extravagante Mode, Catwalk-Mode ein großer Kontrast und es war schwer, zusammenzubringen. Viel nachhaltige Kleidung ist sehr minimalistisch. Von Anfang an waren wir mit unserem Konzept in dieser Nische und haben diese Lücke gefüllt. Kleidung darf – und muss – Spaß machen, unique sein. Jetzt gibt es mehr, vorher gab es sehr wenig. Viele Produzierenden denken, die Materialien müssen komplett abbaubar sein. Und das stimmt auch, wenn man neu produziert.

Aber bei Upcycling nimmt man ja das, was schon da ist. H&M, SheIn und co. produzieren immer weiter. Wenn sie irgendwann aufhören, dann habe ich vielleicht keine Arbeit mehr. Aber sie machen tagtäglich weiter. Und für mich ist bei Upcycling auch die Bildungskomponente total wichtig. Es ist eine Chance, neu und anders zu denken und zu lernen. Es ist wie eine Einladung, unser Konsumverhalten zu überdenken. Das ist Upcycling für mich. Es ist inklusiv, jeder kann es tun und man muss nicht nähen können. Es kommt darauf an, wie man die Sachen kombiniert und weiterbenutzt. All das ist Wiederverwendung und creative reuse.

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Was können andere Brands noch lernen von eurer erfolgreichen Kooperation über Kontinente hinweg und von eurem Ansatz, dass nichts Müll ist?

Vor allem, wenn sie eine Marke haben, die finanziell gut dasteht, gibt es keine Entschuldigung dafür, keine Änderungen in den Prozessen vorzunehmen, um eine größere Ressourceneffizienz und Kreislaufwirtschaft zu erreichen, auch wenn sie noch so klein sind. Auf diese Weise kann die Marke wachsen und ihr Image erneuern. Dies fügt dem Markenimage weitere Inhaltsebenen und Botschaften hinzu und ist eine Möglichkeit, eine tiefere und persönlichere Verbindung mit dem Publikum herzustellen. Es geht darum, diese Veränderungen nicht als Opfer, sondern als Investition in die Zukunft des Unternehmens zu betrachten. Und außerdem wissen wir alle, dass jede Marke, die nicht kreislauforientiert und planetenbewusst denkt, stark leiden und verschwinden wird.

Hast du einen Appell an Fast Fashion Konzerne?

Alle bisherigen „Facelifts“ haben sich als nutzlos erwiesen. Sie sind nach hinten losgegangen, weil jeder weiß, dass es sich dabei nur um Greenwashing handelt. Sie haben keine andere Chance, als ihr Geschäftsmodell radikal zu ändern.

Was ist dein persönlicher Upcycling-Tipp?

Beginne einfach mit einer Schere. Tue es, starte es, versuche es. Es gibt kein Richtig oder Falsch. Sei kein:e Perfektionist:in. Sei nicht konservativ. Es geht um Veränderung, es geht darum, die Regeln zu brechen, nicht sie einzuhalten. Und kombiniere das Unkombinierbare. Lege alles auf einen Tisch und mische es durch. Du wirst mit Sicherheit etwas Einzigartiges finden, indem du die Kleidungsstücke abänderst oder sie einfach mischst. Und stellt alles in Frage. Von der Funktion des Kleidungsstücks bis zur Form. Sogar seine Existenz. Aber wenn wir es einmal in den Händen halten, liegt es in unserer Verantwortung, etwas damit zu tun und es im Umlauf zu halten.

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