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Obdachlosigkeit: Wohnungsnot, Verdrängung und die steigende Zahl betroffener Menschen – im Gespräch mit der Berliner Obdachlosenhilfe

Der 2013 gegründete basisdemokratische und spendenbasierte Verein Berliner Obdachlosenhilfe (BOH) ist als Unterstützung von ehemaligen Obdachlosen für Obdachlose gestartet, unabhängig von allen kirchlichen und staatlichen Institutionen. Heute hat die BOH zwei Schwerpunkte: Auf der einen Seite die akute Grundlagenversorgung mit der Einzelbetreuung über Sozialarbeit und mehreren Touren abends in der Woche, in denen die von Obdachlosigkeit betroffenen Menschen von Schlafsäcken über Essen alles bekommen, was sie benötigen. Und auf der anderen Seite die Arbeit an langfristigem politischem Wirken, denn für die BOH ist klar: Wohnungslosigkeit ist ein politisches Problem, gefördert durch unser kapitalistisches System.

Seit 2014 ist Niclas dabei, „mal mehr, mal weniger aktiv“. Derzeit kümmert er sich – komplett ehrenamtlich mit anderen gemeinsam – um das Kiez Café, das es einmal die Woche gibt. Ansonsten ist er aktiv in der Politik-AG. Stefan arbeitet seit 2021 als einer von zwei hauptberuflich angestellten Sozialarbeiter:innen bei der Berliner Obdachlosenhilfe, unterstützt akut und vor Ort.

Wir hatten so viele Fragen an Niclas und Stefan, aber beinahe alle Antworten führen zu einem Grundroblem: Der prekäre Wohnungsmarkt, geprägt von Spekulationen, zu wenig Wohnraum und Verdrängung.

Stefan und Niclas sprechen sowohl von Wohnungs- als auch Obdachlosigkeit. Es gibt unterschiedliche Definitionen, aber meistens wird das so gehandhabt: Obdachlos sind die Leute, die gar kein Dach über dem Kopf haben und die auf der Straße leben. Wohnungslos sind die Leute, die keinen Mietvertrag oder über Eigentum abgesicherten Wohnraum haben. Das bedeutet, dass sie dann meistens in Unterkünften leben, die vom Staat bereitgestellt werden.

Lieber Niclas, lieber Stefan – weshalb gibt es einen Zuwachs von Obdachlosen auf den Berliner Straßen?

Niclas: Wohnungslosigkeit ist ein politisch gemachtes Problem. Jede:r kennt die Wohnungsmarktsituation in Berlin. Für die einen bedeuten die steigenden Preise einfach mehr Geld für Miete im Monat, vielen tut das natürlich schon weh. Aber für andere bedeutet das: 100 Euro mehr im Monat kann ich mir nicht leisten, finde aber auch keine günstigere Wohnung mehr. Diese Leute versuchen irgendwie, sich das Geld für die Miete jeden Monat zusammenzukratzen. Aber irgendwann geht es einfach nicht mehr und die Menschen landen auf der Straße. Es gibt Statistiken, die zeigen, dass in 85 Prozent der Fälle Zahlungsschwierigkeiten zu Wohnungsverlust führen, es ist also ganz einfach: Armut macht wohnungslos. Es ist ein strukturelles Problem, das im Kapitalismus auftritt.

Ohne Kapitalismus wäre das Problem der Obdachlosigkeit also kleiner?

Niclas: Was wir brauchen, um Obdachlosigkeit zu beseitigen, ist dass wir aufhören, Wohnraum als Ware zu behandeln. Dass wir verstehen, dass Wohnungen ein Grundrecht für Menschen sind und dass das als staatliche Aufgabe verstanden wird, eine Wohnung für jede:n zur Verfügung zu stellen. Solange solche Visionen nicht umgesetzt sind, kann man aber auch innerhalb des Systems, in dem wir leben, Maßnahmen ergreifen.

Häufig ist Stefan mit seiner Hündin Lotte unterwegs. Hundefutter ist eine Sachspende, die die BOH derzeit gut gebrauchen kann – aber nur Trockenfutter.

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Welche aktuellen Maßnahmen zum Beispiel?

Niclas: Gerade gibt es in Berlin ein „Housing first“ Modellprojekt, in dem 90 Wohnungen an Wohnungslose vergeben wurden. Dort bekommen sie – ganz ohne Konditionen – einen Mietvertrag. Sie sind also abgesichert und unabhängig von irgendwelchen Institutionen, das ist ganz wichtig. Anschließend können die ganzen Folgeschäden von Obdachlosigkeit für Suchterkrankungen, Schulden und so weiter freiwillig mit einer Begleitung angegangen werden – müssen es aber nicht. Aber eine Wohnung als sichere Basis ist einfach eine Voraussetzung dafür, dass Leute sich solchen Problemen widmen können. Aber bei den ganzen Maßnahmen – housing first, betreutes Wohnen und co. – ist die Engstelle einfach der Wohnungsmarkt. Denn auch die Träger von Housing First und den anderen Hilfen sind darauf angewiesen, sich irgendwie Wohnungen zu organisieren. Und solange es die nicht gibt, solange der Staat nicht baut und Wohnungen zur Verfügung stellt, wird Obdachlosigkeit ein immer größeres Problem werden.

Stefan: Beim Housing First Programm kommen noch ganz andere Probleme hinzu: Bisher waren die Modellwohnungen auf deutsche Staatsbürgerinnen ausgerichtet. EU-Ausländer, Geflüchtete können keine Wohnung bekommen. Auch das Prinzip „ein Mensch, eine Wohnung“ gilt: das heißt also, dass nur eine einzelne Person eine Wohnung bekommen kann. Wenn da zwei zusammenziehen wollen, beispielsweise eine WG aufmachen möchten, wird es schon schwierig. Das Programm geht also leider zumindest teilweise an den Bedarfen der Menschen vorbei und ist sehr unflexibel.

Wurdet ihr, also Menschen, die tagtäglich mit diesen Bedarfen in Berührung kommen, dabei nicht konsultiert?

Stefan: Doch, uns wurde vom Senat angeboten, uns auf eine Förderung in dem Bereich zu bewerben. Und obwohl wir das Geld natürlich gut gebrauchen können, möchten wir lieber unabhängig bleiben. Außerdem steht das System zur Unterstützung von Obdachlosen ziemlich auf dem Kopf. Denn es hat sich über die Jahre etabliert, dass Einzelpersonen und Organisationen damit Geld verdienen können, dass sie obdachlosen Menschen helfen. 

Kannst du das konkretisieren?

Stefan: Wir reden hier von einem Haushalt für die Unterstützung von Obdachlosen, der gut und gerne in eine zweistellige Millionenhöhe pro Jahr geht. Ein Schlafplatz in einer Notunterkunft, in der es nicht viel mehr gibt als ein kleines Bett in einem großen Schlafraum, kostet gern mal 20 oder 25 Euro in der Nacht pro Person. Da gibt es leider Organisationen, die erkannt haben, dass man damit viel Geld verdienen kann, wenn man diese Betten zur Verfügung stellt und auf Quantität statt Qualität setzt.

2015 und 2016 wurden Turnhallen mit 500 Betten vollgestopft, die dann mit sehr viel Geld gefördert wurden. Die prekären Zustände dort waren egal. Es gibt natürlich unglaublich viele Kolleg:innen, die hier – oft für Mindestlohn oder komplett ehrenamtlich – harte und wichtige Arbeit leisten. Aber es gibt eben auch jene, die ihren Vorteil sehen. Denn es ist einfach so: Sobald du ein Haus mit Schlafplätzen anbietest, wirst du gefördert nach der Zahl der Betten, die du anbietest.

Welche Ausmaße hat das?

Niclas: Es gibt wirklich auch Auswüchse, wo sich irgendwelche zwielichtigen Privatleute eine goldene Nase damit verdienen. Das kann man sich ausrechnen: Wenn man drei Zimmer in der Wohnung hat und in jedes drei Betten stopft, dann kann man mit der Förderung fast 14.000, 15.000 Euro verdienen. Solche Leute haben auch kein ernsthaftes Interesse daran, Obdachlosigkeit grundlegend zu beseitigen.

Stefan: Das geht dann schon grenzwertig in Richtung Korruption, denn eigentlich kann das nicht sein. Das ist menschenunwürdig. Menschen, die vielleicht durch ihre Fluchtgeschichte traumatisiert sind, kannst du nicht in ein Zimmer in einer Neubauwohnung mit drei Betten setzen und sagen: Hier, jetzt bist du untergekommen. Aber auch das ist wieder nur ein Problem von vielen. Denn daneben gibt es noch einen ganz großen grauen Markt im Immobiliensektor, in dem Leute Eigentumswohnungen privat für horrendes Geld untervermieten. Das belastet den ohnehin schon angespannten Immobilienmarkt weiter. So können auch diejenigen, die nach Berlin kommen und hier einen Job haben, kaum mehr eine Wohnung bezahlen. Wohnungslosigkeit betrifft immer und immer mehr auch die sogenannte Mittelschicht.

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Wie viele Leute mit Job sind von Wohnungslosigkeit betroffen?

Stefan: Von den Leuten, die zu uns kommen, weil sie wohnungslos sind, hat ungefähr ein Drittel einen festen Job. Das betrifft häufig prekäre Branchen, also Reinigung, Entrümpelung. Aber wir haben auch einen Gast hier, der zum Beispiel Fahrer bei Amazon ist. Oder die Menschen unterschreiben für Mindestlohn, bekommen ihn aber nicht ausgezahlt.

Niclas: Ich habe gerade länger dazu geforscht. In Unterkünften sind bis zu 20 Prozent der erfassten Leute erwerbstätig. Denn mittlerweile ist ein Job einfach keine Garantie mehr für eine Wohnung. Und das ist natürlich nur die offizielle Zahl, die Dunkelziffer ist riesig. Viele Leute in maximal prekären Situationen werden auch deshalb nicht vom System erfasst, weil sie sich immer wieder gerade so über Wasser halten und deshalb nicht im Hilfssystem registriert sind. Dazu kommen auch nochmal Modelle wie Schwarzarbeit, Gelegenheitsjobs, Tagelöhner, die massiv bedroht sind oder eben schon keine Wohnung mehr haben.

Welche anderen Gruppen sind noch massiv von der Wohnungsnot – oder direkt Obdachlosigkeit – bedroht?

Stefan: Zu Beginn der Pandemie im Lockdown hatte ich acht oder neun Anrufe am Tag von Frauen, die in Beziehungen und mit ihrem Partner in einer Wohnung waren. Und wo sich dann rausgestellt hat: Sie überleben den Lockdown nicht, wenn sie dort bleiben. Oder ihr Mann droht damit, sie aus der Wohnung zu schmeißen und ich bekam die Frage, wo sie hin gehen können. Das sagt ja schon alles über unsere Gesellschaft aus: Die finanzielle Abhängigkeit führt zur Wohnungslosigkeit oder Obdachlosigkeit. In anderen Fällen sind junge Frauen – aus welchen Gründen auch immer – von Zuhause fortgegangen nach Berlin. Für sie ist es häufig nicht schwer, einen Platz zum Übernachten zu finden. Die Frage ist aber immer, was sind die Bedingungen? Und die sind gerade für Frauen nicht immer finanziell. Meine Kollegin kann da haarsträubende Geschichten erzählen. Die prekäre Wohnungssituation nutzen also unterschiedliche Gruppen von – in der Regel Männern – aus.

Niclas: Es ist derzeit einfach auch sehr lukrativ für Vermietende, Leute aus ihren Wohnungen zu drängen, da werden alle möglichen Instrumente angewandt, ob legal oder illegal, ob Eigenbedarfskündigungen oder Mobbing. Wir sind einfach an einem Punkt angekommen, wo es hinten und vorne nicht mehr reicht.

Wie positioniert ihr euch hier politisch?

Niclas: Der Berliner Senat hat sich hier genau wie die EU vorgenommen, dass es bis 2030 keine Obdachlosigkeit mehr gibt. Es sah unter Rot-Rot-Grün schon nicht so aus, als würde das auch nur im Ansatz klappen, das war eine Worthülse. Unter der neuen Regierung natürlich erst recht nicht mehr. Wir möchten, dass sich grundlegend etwas an der derzeitigen Situation ändert und vernetzen uns mit anderen Initiativen im Kiez, die für linke Politik stehen.

Wir organisieren Demonstrationen oder nehmen an ihnen teil und wir unterstützen Initiativen wie Deutsche Wohnen und co. Enteignen. Über Vergesellschaftung könnten sich Aspekte der Verdrängung stoppen lassen. Mieten müssen gedeckelt werden, aber auch das hilft primär den Leuten, die noch ein Dach über dem Kopf haben. Und es braucht im großen Maßstab neue Wohnungen, bei denen wirklich gesichert wird, dass sie für lange Zeit sozialverträglich vermietet werden. Dafür braucht es auf der einen Seite Geld und auf der anderen eine Zugänglichkeit für obdachlose Menschen.

Stefan: Gleichzeitig setzen wir uns gegen die Diskriminierung von Obdachlosen im öffentlichen Raum ein. Da gab es beispielsweise eine Kampagne wegen der das diskriminierende S- und U-Bahn-Personal ausgewechselt wurde, das sich Obdachlosen gegenüber aufgeführt hat wie Todesschwadronen. Auch darunter fallen Gated Communities, die in Berlin zunehmen. Da werden die Plätze vor Wohnanlagen zu geschlossenen Räumen gemacht, es erfolgt also eine Privatisierung von öffentlichem Raum.

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Fällt darunter auch sowas wie Hostile Architecture, also Bänke, die extra Knubbel in der Mitte haben, damit man nicht auf ihnen schlafen kann?

Niclas: Auch. Wenn wir sowas mitgekriegt haben, dass das von der Regierung beauftragt wurde, dann haben wir da protestiert, vielleicht mal eine E-Mail hingeschrieben, vielleicht eine Presseerklärung erstellt. Viel mehr bezieht sich die Verdrängung aber auf Gewalt, Kontrollen und Schikane der Polizei an manchen Orten wie dem Kottbusser Tor Obdachlosen gegenüber. Wir sagen: Wenn ihr nicht wollt, dass die Leute auf der Straße sind ihre Armut sichtbar ist, dann müsst ihr den Leuten eine Wohnung zur Verfügung stellen und sie nicht mit der Polizei in den nächsten Bezirk vertreiben. Es gibt bereits jetzt schon No Go-Zonen für Obdachlose, zum Beispiel in Neukölln.

Stefan: Der neue Law-And-Order-Senat wird das leider immer weiter anwenden. Die Frage ist nur: Wie weit will man die Leute verdrängen? Irgendwann ist Schluss, irgendwo hört die Stadt auf. Natürlich kann man dann Container hinstellen, so wie es für geflüchtete Menschen der Fall ist. Aber ein menschenwürdiges Leben und Wohnen ist das nicht. Dagegen werden wir uns weiter wehren.

Wie unterstützt ihr von Wohnungs- und Obdachlosigkeit betroffene Personen neben den politischen Aktionen?

Niclas: Das hängt von den Leuten ab, die im Verein sind. Zwei Mal im Monat haben wir ein Plenum, wo wir besprechen, was wir machen oder ob jemand eine Idee hat, wie man Wohnungslosen und Obdachlosen das Leben einfacher machen kann. Oft hat jemand eine Idee und die Umsetzung entwickeln wir dann gemeinsam.

Wir haben zum Beispiel auch mal eine Woche lang einen Urlaubsausflug mit Wohnungslosen gemacht. Das war toll.  Denn man kann sich ja vorstellen, dass wenn Leute auf der Straße oder wohnungslos sind, sie die ganze Zeit am Arbeiten sind, um das tägliche Überleben zu sichern. Und dann ist es natürlich umso wertvoller, mal was anderes zu machen, kurz zu entspannen. Nicht nur im Urlaub, übrigens. Deshalb ist es prinzipiell unser Anspruch, zum Beispiel bei den Essensausgaben oder hier im Kiez Café, eine Atmosphäre zu schaffen, wo die Leute gern sind und nicht abgefertigt werden. Ab und zu höre ich auch mal von den Gästen, dass sie bei Essensausgaben ihre Freund:innen treffen und es auch ein soziales Event ist.

Wenn ihr die Arbeit von der BOH unterstützen wollt:

IBAN: DE76 4306 0967 1213 2027 00
BIC: GENODEM1GLS

Mehr zu sozialer Gerechtigkeit gibt es auch hier oder hier zum Nachlesen.

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