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Wir dürfen nicht aufhören, über die feministische Revolution in Iran zu sprechen – mit Melissa Derafsheh

Manchmal posted Melissa Derafsheh auf ihrem Instagram-Profil Analysen über die Rolle Deutschlands und der Medien bei der feministischen Revolution im Iran. Manchmal teilt sie Ressourcen und Neuigkeiten, manchmal schreibt sie Artikel für Zeitungen zu dem Thema oder ist bei der postmigrantischen Jugendinitiative der Iranischen Gemeinde in Deutschland, Ayande, aktiv.

Deshalb haben wir mit Melissa gesprochen: Darüber, was derzeit in Iran passiert, welche Verantwortung die deutschen Medien und Politik tragen und wie man ein Momentum aufrechterhalten kann.

Liebe Melissa, was passiert gerade – ein dreiviertel Jahr nach dem Mord an Jina Amini in Iran?

Seit ungefähr einem Monat läuft eine Hinrichtungswelle in Iran – in nur einem Monat wurden über 140 Menschen hingerichtet . Viele Menschen sind eingeschüchtert. Es gibt zwar noch größere Proteste, aber nicht mehr so viele, wie letzten Herbst. In Zahedan, der Hauptstadt der Provinz Sistan in Beluchistan gehen die Menschen seit September letzten Jahres jeden Freitag auf die Straße. In Kurdistan gibt es fast jeden Tag kleinere Proteste an den Gräbern der Ermordeten. Das sind jedoch Regionen, die schon immer wenig Aufmerksamkeit bekommen haben. Deswegen werden diese Proteste kaum wahrgenommen. In größeren Städten, wie Shiraz, Isfahan oder Tehran, hat sich der Protest verändert. Sehr viele Frauen gehen ohne Kopftuch auf die Straße, sie singen und tanzen in der Öffentlichkeit, viel Menschen rufen ihren Frust nachts laut aus den Fenstern. Sie alle halten die Revolution am Leben.

Weshalb liest und hört man derzeit hier so wenig von der Revolution in Iran, im Vergleich zu Ende 2022?

Da muss ich ein wenig ausholen und einordnen. Denn erstmal muss man festhalten, dass es überhaupt zwei bis drei Wochen gedauert hat, dass die Medien nach Jinas Ermordung darüber berichtet haben. Wir haben dann als Diaspora in den sozialen Medien sehr viel Lärm gemacht und dann wurde nach drei Wochen endlich berichtet. Und das bringt mich auch zu dem Punkt, weshalb man derzeit nicht viel hört: Mein Eindruck ist, dass die deutsche Berichterstattung nicht so richtig versteht, was passiert. Es gibt einige wenige gute Journalist:innen, die die Geschehnisse einsortieren und einen differenzierten Blick haben. Leider sind das nur einige wenige.  Die Allermeisten verstehen nicht, was sie sehen. Ich glaube, dass das daran liegt, dass diese Revolution, die ja eine feministische Revolution ist, sehr an dem Bild über den Iran und über den Nahen Osten rüttelt. An dem europäischen, eurozentristischen, rassistischen Bild.

Kannst du das konkretisieren?

Dass es in einem Land wie Iran eine feministische Revolution gibt, passt nicht in das bestehende Narrativ. Deshalb hat es erst sehr lange gedauert, bis überhaupt berichtet wurde und dann war die Berichterstattung davon geprägt, dass die „unterdrückten Frauen ihr Kopftuch abnehmen“. Das konnte man gut aufgreifen, das dachten Journalist:innen zu verstehen: Das Kopftuch als Symbol der Unterdrückung der Frau im Nahen Osten. Schließlich hat es auch noch einige Zeit gedauert, bis Medienhäuser hier verstanden haben, dass es nicht um das Kopftuch geht – obwohl sogar bis heute noch viele Berichte davon sprechen. Dabei ist es ein strukturelles und systemisches Problem. Ich habe vor unserem Gespräch mal bei ein paar großen Medien in Deutschland das Stichwort Iran eingeben und geschaut, welche Nachrichten in den letzten sechs Monaten so kamen.

Spannend, was hast du gefunden?

Hauptsächlich gibt es Berichte zu Sanktionen, Giftgasanschlägen an Schulen, es geht um die Hinrichtungen, den Gefangenenaustausch zwischen Belgien und Iran und natürlich gibt es viele Artikel zu Iran und Russland und die politische Annäherung zwischen Saudi-Arabien und Iran. Und es gibt einige Berichte zu – natürlich – der Verschärfung der Kopftuch-Pflicht. Natürlich ist es gut, dass über all diese Themen berichtet wird, denn alles entspricht der Realität. Nur es zeichnet eben ausschließlich ein Bild von einem rückständigen Land, in dem Frauen gewaltvoll unterdrückt werden. Das stimmt auch in Teilen – aber es ist eben nur ein Bruchteil von einem gesamten und sehr komplexen Bild.

Welche Berichterstattung würdest du dir wünschen?

Leider interessieren sich die Leute einfach nicht mehr so wirklich dafür, die Aufmerksamkeitsspanne der Medien und Menschen ist sehr kurz. Deshalb frage ich mich, wie die internationale Aufmerksamkeit wäre, wenn man zum Beispiel mehr über Leute – und Frauen – wie Sepideh Qolian berichtet. Sie ist eine Menschenrechtsaktivistin, die einfach so verdammt stark ist, dass sie, während sie aus dem Gefängnis entlassen wird, noch auf dem Gefängnisgelände Ayatollah Chamenei, das geistliche und politische Oberhaupt des ganzen Landes, unter die Erde wünscht. In einer Kleidung, die traditionell verboten ist und – natürlich auch ohne Kopftuch. Eine starke Frau, die also komplett gegen alles verstößt und das noch auf dem Gefängnisgelände. So viel Mut muss man erstmal haben.

Oder Narges Mohammadi, sie ist die stellvertretende Vorsitzende des iranischen Zentrums für die Verteidigung der Menschenrechte. Diese starken Frauen, die im Zentrum der Revolution stehen, werden nicht genannt. Frauen bleiben in der Berichterstattung passiv und unsichtbar. Das ist ein Problem. Ihren Kampf muss man sichtbar machen. Und ich glaube auch, dass das Interesse der Menschen in Deutschland ganz anders wäre, wenn konsequent die Verantwortung unserer eigenen Regierung mitgenannt werden würde. Dass dieses Regime im Iran noch an der Macht ist, liegt nicht zuletzt auch daran, dass die deutsche Bundesregierung und die EU es schützen und den Demonstrierenden massiv in den Rücken fallen. Das sollte nicht untergehen. 

Wie würde das das eurozentrische Bild aufbrechen?

Der Kontext ist der: Das europäische Bild über die Welt und speziell den globalen Süden ist geprägt von Kolonialismus und Imperialismus: Wir leben in einer rassistischen Welt und Rassismus hat die Funktion der gesellschaftlichen Hierarchisierung. Iran und der Nahe Osten stehen in dieser Hierarchisierung unter Deutschland und Europa. Allerdings sind der Nahe Osten und Iran keine homogene Gruppe, wo alle Menschen gleichermaßen ‚unter‘ Deutschland stehen. Der Iran ist ein extrem Diverses Land und die globale Hierarchisierung der Gesellschaft greift auch dort tief ein. Zum Beispiel stehen Kurd:innen und Beluch:innen nämlich noch weiter unten. Jetzt ist es so, dass in Kurdistan und Beluchistan die Proteste besonders stark sind. Die Gewalt gegen sie ebenso. Wenn es aus Iran Berichte nach Deutschland oder Europa schaffen, dann sind es in der Regel die von denjenigen, die im Land nicht strukturell diskriminiert werden, sondern von den Privilegierteren. Kurd:innen und Beluch:innen fallen dort systematisch raus. Dabei ist die Revolution in Kurdistan gestartet und die Berichterstattung über den Widerstand dort ist sehr wichtig, um ein korrektes Bild zu vermitteln.

Also müsste eine Berichterstattung hier auch noch viel kritischer hinterfragen, welcher Quellen sie sich bedienen?

Genau. Zum einen wäre es gut, wenn Journalist:innen sich endlich ihrem internalisierten Rassismus stellen würden, um ihn abzubauen. Dann könnten sie besser verstehen, was sie sehen. Und zum anderen ist es eben so, dass die islamische Regierung in Iran einfach auch sehr gut darin ist, ihre Propaganda zu streuen. Sie hat eine extrem gute Cyber-Armee und gibt viel Geld für Lobbyismus aus. Und Teil dieser Propaganda ist es eben auch Kurd:innen und ihren Widerstand unsichtbar zu machen oder zu diffamieren. Sie sind also sehr aktiv und ihre Propaganda wird häufiger gehört als unsere aktive Kritik und unsere Forderungen. Und während die Diaspora und ihr Wissen medial manchmal gut gehört werden – zum Beispiel auf einem Panel der re:publica, auf dem unter anderem Natalie Amiri saß und viele kluge Sachen gesagt hat – frage ich mich trotzdem, wie es sein kann, dass die Medien, der Bundestag und die Bundesregierung derart schlecht beraten werden. Es ist wirklich irritierend. Denn es gibt eigentlich nur zwei Optionen: Dass sie keine Ahnung haben, und das glaube ich nicht. Oder dass der politische Wille in der Regierung fehlt.

Das heißt, die fehlerhafte Darstellung dessen, was in Iran passiert, ist nicht nur ein mediales, sondern auch ein politisches Problem?

Ja, genau. Es ist für mich absolut unverständlich, dass die Entscheidungen, die derzeit getroffen werden, der Revolution schaden und gleichzeitig de facto gegen unsere eigenen Interessen verstoßen: Mit unserem politischen Verhalten stärken wir die Islamische Republik des Iran und gefährden dadurch unsere eigene Sicherheit. Denn es werden zum Beispiel keine konkreten Konsequenzen gezogen für die ganzen Hinrichtungen.

Welche konkreten Konsequenzen forderst du, fordern die Menschen, die Diaspora?

Eine Terrorlistung des Regimes, ein komplettes Einfrieren aller Gelder derer, die für die Islamische Regierung arbeiten. Die bisherigen Sanktionen – der Iran ist eines der am stärksten international sanktionierten Länder weltweit – wurden erfolgreich auf die Bevölkerung abgewälzt. Eine Terrorlistung würde dafür sorgen, dass das Regime getroffen würde, nicht die Menschen. Somit würden dem Regime auch Leute wegbrechen. Das System kann nur implodieren. Und dazu können wir beitragen.

Was braucht es noch?

Ein Stilllegen der gesamten wirtschaftlichen Zusammenarbeit ist auch wichtig. Deutschland ist Wirtschaftspartner Nummer eins des Iran innerhalb von Europa. Man kann sich nicht vor die Kamera stellen und sagen: Wir verurteilen das Regime in Iran und gleichzeitig Deals im Hintergrund machen, von denen Deutschland profitiert. Eine weitere wichtige Forderung ist, iranische zivilgesellschaftliche Bündnisse zu stärken – sowohl in Iran als auch in der Diaspora. Denn diese Leute sind es, die sich dafür einsetzen, dass es irgendwann eine Demokratie geben wird.

Und dann gibt es ja noch das Joint Comprehensive Plan of Action, JCPOA, das Atomabkommen…

An dem JCPOA festzuhalten, ist einfach nur dumm. Aus dreierlei Gründen: Erstens, Europa macht sich damit zum Spielball. Jedes Mal, wenn Europa etwas fordert, droht der Iran damit, das JCPOA zu kippen. Der zweite Punkt ist, dass es sehr gefährlich wäre, wenn das JCPOA in Kraft tritt. Denn an das Abkommen sind Gelder gekoppelt. Diese würden mit dem Umsetzen des JCPOA freigesetzt werden, derzeit sind ja das Abkommen und die Gelder eingefroren. Und Geld ist das, was die Regierung gerade braucht. Das erklärt auch, weshalb sich die Regierung derzeit unter anderem mit Saudi-Arabien einlässt. Die Revolution ist ein Prozess, aber sie ist erfolgreich: Die Regierung muss viel Geld für ihre Armee und co ausgeben. Auch die Spionage- und Lobbyarbeit ist extrem teuer, das muss alles finanziert werden. Geld würde auch dafür sorgen, dass der Iran wieder mehr Möglichkeiten hat, den Krieg in der Ukraine, in Syrien, in Jemen zu fördern und finanzieren.

Aber ist die Kehrseite der Medaille nicht, dass es gefährlich ist, wenn das JCPOA komplett wegbricht?

Das ist drittens: Es ist eine gefährliche Illusion zu glauben, dass sich das derzeitige iranische Regime langfristig an ein JCPOA hält. Es ist schlauer – und international sicherer – die Revolution zu unterstützen. Ohne das derzeitige Regime gibt es das Atom-Problem so auch nicht mehr. Der einzige Weg zu einem Iran ohne Atommacht ist der Erfolg dieser Revolution. Einen anderen gibt es nicht. Deshalb könnte man die Revolution aus deutscher Perspektive auch als notwendig für unsere Sicherheit framen. Vielleicht würde man mit dieser Darstellung auch wieder mehr Leute erreichen.

Was können du, ich, wir alle solange tun, um das Thema Revolution in Iran weiter hochzuhalten?

Wir müssen es irgendwie hinbekommen, die deutsche Zivilgesellschaft wieder wachzurütteln. Dass sie versteht, dass die Situation auch etwas mit ihnen und uns zu tun hat, damit wir weiter Druck auf Politiker:innen ausüben. Es passiert total viel auf der Welt und ich verstehe es total, dass sich nicht alle Leute mit allem beschäftigen können. Aber es ist illusionär zu denken, dass wir in einer globalisierten Welt nichts damit zu tun haben. Und gleichzeitig hängt die Schnelligkeit des Erfolges der Revolution davon ab, wie viel internationale Aufmerksamkeit da ist. Und wenn sie nicht da ist oder nur gering, dann wird der Prozess noch dauern, wahrscheinlich jahrelang. Dass die Revolution nicht erfolgreich sein wird, das kann ich mir nicht vorstellen, der Punkt, wo man nur zum Status Quo zurückkehren kann, ist seit Monaten überschritten. Die Frage ist deshalb lediglich: Müssen es die Iraner:innern allein schaffen, oder werden sie dabei unterstützt?

Konkret unterstützen kann man die Revolution in Iran weiterhin durch:

  • Auf Demonstrationen gehen für die öffentliche Präsenz und um den Iraner:innen Kraft und Energie zu geben bei ihren eigenen Demos. Denn sie sehen es, ob wir auf der Straße sind oder nicht. Und es beeinflusst sie mehr, als uns bewusst ist.
  • Nachrichten an Politiker:innen schreiben und bei E-Mail-Aktionen mitmachen, um den Druck aufrecht zu erhalten
  • Über Snowflake VPNs zur Verfügung stellen
  • Im Alltag darüber reden, um darauf aufmerksam zu machen
  • Auf Social Media die Menschen und Bündnisse unterstützen, die einen Großteil ihrer Freizeit dafür nutzen, um auf die Revolution aufmerksam zu machen. Auf Social Media kann man sehr leicht unterstützen: Einfach liken, speichern und kommentieren. Hashtags setzen. Am besten jeden Tag. Und am besten reposten.

Wer Melissas wichtige Bildungsarbeit weiter unterstützen möchte, kann ihr unter anderem auf Instagram folgen.

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