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Unsere Wut ist stärker als eure Macht – zum Jahrestag des Mordes an Jina Amini

Die Wut der Menschen im Iran ist groß. Sie hat die Stabilität des Regimes im vergangenen Jahr massiv ins Wanken gebracht. Das Regime kämpft inzwischen ums Überleben, denn es bröckelt an allen Ecken und Enden. Zum Jahrestag des Mordes an Jina Amini versucht das iranische Regime bereits seit Wochen mit allen Mitteln, größere Demonstrationen zu verhindern. Als Vorbereitung auf ihn werden größere Städte bereits seit Wochen massiv militarisiert. Außerdem erleben wir eine brutale Verhaftungswelle: In den vergangenen Wochen wurden bereits hunderte Menschen brutal festgenommen. Auch Angehörige von ermordeten Demonstrant:innen werden gezielt verhaftet und die Familien unter Druck gesetzt. Durch Einschüchterungen versucht das Regime, sein eigenes Überleben zu sichern, ganz nach der der Maxime: maximale Unterdrückung, um maximale Angst und Abschreckung zu verbreiten.

Doch dieser Ansatz geht inzwischen nach hinten los. Denn je mehr das Regime die Menschen unterdrückt, desto stärker spielt es mit dem Feuer. Meine Freundin in Tehran drückt es so aus: „Wir sehen die Glut unter der Asche glühen. Man muss nur einmal pusten und es wird wieder brennen.“ So sind zum Beispiel Beerdigungen fundamentale Orte des Protests. Jede Person, die vom iranischen Regime ermordet wird, versammelt unzählige Menschen um ihr Grab. Sie rufen: „Trauert nicht. Organisiert euch.“ Die Menschen sind entschlossen, die Richtung ist klar. Es geht nur noch vorwärts, jeden Tag geradeaus bis zum Sturz der Islamischen Republik.

Wie die Revolution nach dem Mord an Jina Amini zum Alltag wird

Doch diese Realität spiegelt sich in Deutschland kaum wider. Wenn ich mich durch die deutschen Medien klicke oder mit Menschen ohne Iranbezug über die Revolution im Iran spreche, nehme ich eine große Ernüchterung wahr. Viele haben den Eindruck, als sei alles vorbei. Viele schauen nicht mehr hin. Es gibt kaum noch eine nennenswerte Berichterstattung, es scheint, als wäre das allgemeine Interesse geschwunden. Das ist ein Problem, denn wenn ich mich durch Instagram klicke und mit meinen Freund:innen und Verwandten im Iran spreche, dann sehe und höre ich eine andere Realität. Eine Realität, in der die Revolution verinnerlicht werden musste und Alltag ist. Eine Realität, in der die Revolution das alltagsbestimmende Element der Menschen bei der Arbeit, zu Hause, im Café, in der U-Bahn, im Taxi, oder auf der Straße ist. Zahlreiche Menschen führen ihr Leben unter Lebensgefahr, sie kämpfen tagtäglich auf unterschiedlichste Weisen für Freiheit.

Wenn ich mich mit meiner Freundin in Tehran unterhalte, dann erzählt sie mir von der emotionalen Achterbahnfahrt, die sie und alle Menschen um sie herum bereits seit mehr als einem Jahr durchlaufen. Sie erzählt einerseits von einer Zunahme ihrer Angstzustände. Von den regelmäßigen Panikattacken, weil sie ununterbrochen um das Leben ihrer Freund:innen fürchtet. Gleichzeit erzählt sie von einer Sicherheit, die sie als Frau im Iran inzwischen fühlt. Obwohl sie sich jeden Tag aufs Neue in Lebensgefahr begibt, weil das Regime mit aller Kraft gegen Frauen und Regimekritiker:innen vorgeht, könne sie sich immer sicher sein, dass die anderen sie verteidigen werden. In den vergangenen elf Monaten habe sich ein Maß an Solidarität unter vielen Menschen aufgebaut und gefestigt, gegen das das Regime immer schwerer ankommt. Menschen unterstützen und schützen sich gegenseitig. Das ist eine Kraft, die von keiner Kugel, durch keinen Strang gebrochen werden kann.

Internationale Aufmerksamkeit als Überlebenshilfe

Es ist eine Realität, in der es die Menschen nicht nur verdienen gesehen zu werden, sondern für die es im wahrsten Sinne des Wortes überlebenswichtig ist, wahrgenommen zu werden. Denn leider steht die Intensität der Gewalt des Regimes in Zusammenhang mit der internationalen Aufmerksamkeit. Je weniger die Welt hinschaut, desto gewaltvoller bekämpft das Regime die Menschen. Denn je weniger die Welt hinschaut, desto gestärkter und legitimierter fühlt sich das Regime in seinem Bestehen.

So haben wir eine massive Hinrichtungswelle erlebt. Allein im Mai wurden laut Menschenrechtsorganisationen über 140 Menschen hingerichtet. Anfang Juli wurden innerhalb von zwei Tagen 12 Menschen hingerichtet. Und das sind nur die verifizierten Fälle. Bei zahlreichen Hinrichtungen bleiben der Name, die Geschichte, das Leben der Ermordeten unbekannt. Dass solch eine Hinrichtungswelle überhaupt möglich ist, liegt nicht zuletzt auch daran, dass der Westen wegschaut. Das ist bitter. Denn ich erinnere mich noch sehr gut an die Warnungen der Protestierenden vor elf Monaten. Während sie froh waren, endlich mediale Aufmerksamkeit aus dem Westen zu bekommen, warnten sie uns zugleich vor genau dem, was wir jetzt erleben: „Sobald ihr aufhört hinzuschauen, werden sie uns nacheinander hinrichten“.

Das iranische Regime macht also das, was es schon seit Jahrzehnten tut: mit massiver Gewalt ihr Überleben sichern. Wir sehen und hören von brutalen Festnahmen, Menschen werden regelmäßig auf offener Straße erschossen, in den Gefängnissen werden Menschen durch sogenannte weiße Foltermethoden psychisch gebrochen, jeden Tag werden Menschen hingerichtet. Fast das ganze Land ist traumatisiert, weil es kaum noch Familien gibt, in denen nicht mindestens eine Person erschütternde Gefängniserfahrungen gemacht hat oder gar ermordet wurde. Währenddessen macht die deutsche Regierung ebenfalls das, was sie bereits seit Jahrzehnten tut: Schweigen.

Unsere Verantwortung

Das ist ein Problem. Denn die Bundesregierung ist tief in die Machenschaften des Regimes verstrickt. Als wichtigster Handelspartner des Iran in der EU ist es nicht egal, welche Signale die deutsche Regierung sendet. Als Verhandlungspartner im Atomdeal ist es äußerst relevant, welche Grenzen gesetzt werden – oder eben nicht. Folglich geht es nicht um bloße Solidarität, es geht um Verantwortung, die bei dem geschwächten Regime viel ausrichten kann.

Klar ist, nur die Menschen im Iran können das Regime im Iran stürzen. Doch die aktuelle Iranpolitik zahlreicher westlicher Staaten fällt ihnen in den Rücken. Denn sie schützt das iranische Regime, stärkt ihre Macht und legitimiert ihre Gewalt. Für die deutsche Regierung käme es zwar spät, jedoch nicht zu spät, um endlich Verantwortung zu übernehmen. Die stärksten Forderungen werden seit Monaten, teils seit Jahren, immer wieder vorgetragen: Die Revolutionsgarden auf die EU-Terrorliste setzen, die Wirtschaftsbeziehungen auf Eis legen, die Verhandlungen über das JCPOA (den Atomdeal) abbrechen. Außerdem brauchen wir eine EU, die humanitäre Visa ausstellt, einen Abschiebestopp in den Iran durchsetzt und der Geiseldiplomatie ein Ende bereitet.
Auf diese Weise würden Menschen geschützt, die iranische Gesellschaft gestärkt und das Regime geschwächt werden.

Auch die deutsche Gesellschaft hat noch großes Potential, um Verantwortung zu übernehmen. Immerhin geht es um unsere Regierungen, um unsere demokratischen Vertreter:innen. Wer, wenn nicht wir ist hier gefragt? Wer, wenn nicht wir kann Druck auf sie ausüben?  

Ein Gastartikel von Melissa Derafsheh. Unser Gespräch mit Melissa aus dem Sommer gibt es hier zum Nachlesen.

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