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Die Aufarbeitung des deutschen Kolonialismus steht erst am Anfang: im Gespräch mit Tahir Della von Decolonize Berlin und ISD

Im Dezember 2020 wurden in Berlin aus dem Nachtigalplatz der Manga-Bell-Platz und aus der Lüderitzstraße die Cornelius-Fredericks-Straße: Die Ehrung von Kolonialverbrechern hat also an diesen zwei Orten ein Ende. Aber „es gibt aber noch vieles zu tun“, sagt Tahir Della, die Aufarbeitung des deutschen Kolonialismus ist noch lange nicht erledigt. Im Gegenteil, die Umbenennung muss erst der Anfang sein.

Tahir Della hat über das Buch „Farbe Bekennen“, das 1986 erschien, in den Aktivismus gefunden. Dass Schwarze Frauen aus Deutschland ihre Erfahrungen autobiografisch niederschreiben, war damals völlig neu und für Della inspirierend. Heute ist er schon lange bei der Initiative Schwarzer Menschen in Deutschland aktiv, in dessen Vorstand er bis 2019 war, sowie in dem Bündnis decolonize Berlin, das sich genau diese Arbeit zur Aufgabe gemacht hat: Deutschen Kolonialismus in der Hauptstadt und darüber hinaus sichtbar zu machen und diejenigen in Machtpositionen kontinuierlich zur Aufarbeitung anzuhalten.

Ein Gespräch über deutschen Kolonialismus, wie die Politik Aufarbeitungsprozesse besser machen muss und über wirtschaftlichen Neokolonialismus.

Tahir, gerade ist das mediale Interesse an eurer dekolonialen Arbeit sehr groß. In Berlin wurden endlich zwei Straßen umbenannt, die die Namen von Kolonialverbrechern trugen. Seid ihr zuversichtlich oder habt ihr auch Sorge vor einer möglichen unionsgeführten Regierung in Berlin?

Vor noch nicht allzu langer Zeit war es so, dass die Berichterstattung häufig über uns, über Kolonialismus stattgefunden hat und nicht mit uns. Das ändert sich seit einiger Zeit, das, was die Aktiven zu sagen haben, wird wahrgenommen und wir werden gehört. Wir werden entsprechend mehr eingebunden in die Prozesse zum Umgang mit kolonial belasteten Straßen und erhalten dadurch auch mehr Öffentlichkeit für dieses wichtige Thema. So entstehen kritische Beiträge, die davon getragen sind, dass sich die Stadtgesellschaft ernsthaft und umfassend mit der Dekolonisierung des öffentlichen Raumes beschäftigt. Und natürlich gibt es gleichzeitig auch jene, die nach wie vor gegen unsere Arbeit poltern, aber das sind dann ganz bestimmte Medienhäuser. Es wird sich zeigen, ob eine unionsgeführte Landesregierung unsere Arbeit wieder erschweren könnte. Ich glaube es jedoch nicht.

Weshalb nicht?

Eine Regierung kann diese wachsenden Bewusstseinsprozesse nicht aufhalten. Deutscher Kolonialismus ist ein historisch und politisch wichtiges Thema. Berlin war für den deutschen Kolonialismus die Hauptstadt der Machtzentrale, es wurde sich hier immer schon viel mit dem Thema beschäftigt. Wir machen nur die Kehrseite sichtbar, ergänzen die Stadtgeschichte. Und diese Prozesse – nach so vielen Jahrzehnten – brauchen Zeit, sind nicht nach drei, vier Jahren erledigt. Es gibt viele Projekte, an denen gearbeitet wird: Aufarbeitungskonzepte, Jahresberichte, ein Gutachten zu menschlichen Gebeinen, ein Gutachten zu wissenschaftlicher Forschung. Die werden vom Regierungswechsel nicht gestoppt werden können.

Viele Berliner:innen haben damals in der Schule wenig zu Kolonialismus gelernt und gar nichts zu dem deutschen Kolonialismus. Gibt es auch hier Prozesse in die richtige Richtung?

All diese Ergebnisse die aus den zahlreichen Gutachten, Publikationen, Projekten und Interventionen sind eine wichtige Grundlage auch für Lehrpläne an Schulen. Aber Lehrkräfte haben darüber hinaus ja auch noch mehr Möglichkeiten: Schulklassen können zu Führungen in Museen gehen, Workshops anbieten oder bei den NGO der afrodiasporischen Communities anfragen. Das Spannende ist nämlich, dass bedingt durch den momentanen öffentlichen medialen Diskurs viele junge Leute sehr interessiert daran sind, genauer hinzuschauen, wie die gegenwärtigen Entwicklungen auch mit der kolonialen Vergangenheit zusammenhängen. Sie sehen Leerstellen, fragen nach dem Wieso, Weshalb, Warum und beteiligen sich an Prozessen und Aktivitäten.

Was verändert sich durch diesen Austausch für die Aufarbeitung des deutschen Kolonialismus?

Das Nichtwissen war und ist immer der Kern des Problems. Die Leute wissen dann nicht, weshalb wir z.b. Straßennamen ersetzen wollen, die koloniale Verbrecher ehren. Sie wissen nicht, warum wir das Humboldt-Forum weiter kritisieren, weshalb wir uns dafür einsetzen, dass das Staatsbürgerschaftsrecht überdacht wird und die Migrationspolitik und wie die Klimadebatte damit zusammenhängt. Deshalb ist es notwendig, den Austausch zu haben. Debatten über Straßenraum sind ja oft davon getragen, dass Leute an etwas festhalten, zu dem sie sich vorher nie einen Kopf gemacht haben – oder machen mussten. Da wird dann plötzlich gesagt: Durch Umbenennungen machen wir Geschichte und Vergangenheit unsichtbar.

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Als die Namensänderungen im Dezember in Manga-Bell-Platz und Cornelius-Fredericks-Straße stattgefunden haben, gab es Protest und sogar eine Klage der Anwohner:innen dagegen.

Wir würden uns wirklich wünschen, im Dialog mit den Anwohner:innen Veränderungen zu organisieren. Es gab und gibt unsererseits Einladungen, Veranstaltungen, um zu erklären, dass da nicht einfach nur Leute kommen und ihre Straßen willkürlich umbenennen wollen. Nur, wenn man sich mit der Komplexität beschäftigt, wird klar, wie sehr die bisherigen Namen wirklich problematisch sind. Solange das nicht der Fall ist, kann man niemandem einen Vorwurf machen. Aber gleichzeitig – während die Meinung der Anwohner:innen wirklich wichtig ist, bedarf es auch einfach einer gesamtgesellschaftlichen Positionierung, die zeigt: Wir wollen in unserer Stadt keine Kolonialverbrecher ehren. Und das Bedürfnis, eventuell seinen Personalausweis nicht ändern lassen zu wollen, kann nicht über dem Kampf gegen antischwarzen Rassismus stehen, den Betroffene erfahren, wenn sie durch die Innenstadt gehen.

Aber raubt es nicht auch ein wenig Motivation, wenn Leute, die nichts verlieren würden, bei denen kein Bezug da ist, bereits auf einer solchen Ebene Widerstand leisten? Insbesondere wenn wir auf die vielen Prozesse in der Gesellschaft schauen, die dringend schneller gehen müssten?

Ich würde sagen nein, das raubt keine Motivation. Das ist jeder Veränderung inhärent. Da müssen alle Menschen durch, die in der Gesellschaft ein systemisches Problem ansprechen und verändern wollen. Es gibt so viele Ausgrenzungen und Diskriminierungsformen. Von vielen Veränderungen und Verbesserungen für die Minderheit ist die Mehrheitsgesellschaft gar nicht betroffen. Aber sie glaubt sich immer erstmal fragen zu müssen, was diese Neuerungen bringen sollen und erstmal verstehen müssen, ob sie nicht doch zulasten der Mehrheitsgesellschaft stattfindet. Ein Widerstand ist immer wahrscheinlich. Das ist nicht angenehm. Aber je mehr Widerstand wir erfahren, desto mehr merken wir, wie weit wir noch von Veränderung weg sind, wie wichtig unsere Arbeit noch ist.

Wir haben eben schon kurz das Humboldt-Forum angesprochen. Wie geht der Aushandlungsprozess bezüglich Raubkunst und dem deutschen Kolonialismus dort voran?

Wir fordern nach wie vor, dass das koloniale Raubgut zurückgegeben wird. Ich finde aber auch, was wichtig ist – weil es jetzt kürzlich die Übergabe von ein einiger Benin Bronzen durch Annalena Baerbock und Claudia Roth gab – dass bei all diesen begrüßenswerten Schritten jetzt doch etwas fehlt in diesem Prozess. Und zwar etwas, wo deutlich wird: Wir bedauern, wir trauern, wir zeigen noch mal deutlich, wie schwerwiegend diese Verbrechen eigentlich wiegen und was wir Furchtbares dazu beigetragen haben. Objekte zurückgeben ist schön, ist unglaublich wichtig. Aber der Prozess ist kein Ablasshandel und darf keiner sein. Vor ein paar Jahren hieß es noch, dass den Ländern die Sachen gar nicht gehören, man habe sie rechtmäßig erworben und so weiter. Deshalb muss jetzt mehr geschehen als eine medienwirksame Rückgabe. Dasselbe gilt natürlich für die Menschlichen Gebeine, das müsste eigentlich zuerst vorangetrieben werden.

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Ja, das waren immerhin Menschen…

Genau. Deshalb muss klar werden, dass der Rückgabeprozess auch Aufarbeitung und Auseinandersetzung umfasst, das fehlt mir momentan auf Seiten der Politik. Die Zivilgesellschaft ist da schon dran. Aber Politiker:innen neigen natürlich dazu, Sachen schnell zu erledigen, da braucht es dringend eine Nachsteuerung. Für das Humboldt-Forum wurde mehr Geld ausgegeben, als die Politik Namibia in einem Ratenverfahren angeboten hat. Da gibt der Täter die Summe vor und was mit dem Geld passieren muss oder soll. Weshalb wird hier nicht auch über die Landfrage diskutiert? Große Teile in Namibia sind noch immer im Besitz der Nachfahren der sogenannten „Siedler“.

Weshalb ist der Reparationsprozess des deutschen Kolonialismus in Namibia noch schwierig?

Jahrelang wurde gesagt, der Völkermord an den Herero und Nama war kein Genozid, weil es den rechtlichen Rahmen nicht gab ihn auch so zu benennen. Dabei war es der erste Völkermord des 20. Jahrhunderts. Erst nach dem Armenien-Beschluss wurde sich darauf eingelassen zu sagen: Es war ein Genozid. Dann wurde aber nicht darauf geachtet, dass neben den Regierungen auch die betroffenen Verbände am Tisch sitzen. Namibia nimmt Deutschlands Zahlungen mehr als Entwicklungshilfe wahr, deshalb wird Deutschlands Angebot im namibischen Parlament auch nicht ratifiziert. Deutschland muss anerkennen, dass diese Taten sehr viel zentraler für die Welt waren, als wir es zugeben möchten. Deutschland ist noch ganz am Anfang seiner Aufarbeitung. Es fehlen auf der einen Seite ein langfristiges Konzept und auf der anderen Empathie, Trauer, Bedauern über die Schmerzen und Verluste.

Was können wir als Gesellschaft noch tun?

Kolonialismus ist ein Querschnittsthema und das muss auch endlich als solches gesehen werden. Es steht nicht mal als globales Unrechtssystem im Koalitionsvertrag drin. Dadurch, dass Kolonialismus sich über alle Kontinente und Lebensbereiche gespannt hat, betrifft die Aufarbeitung auch heute noch alle gesellschaftlichen Bereiche. Projekte und Maßnahmen müssen sie also in der Breite angehen, sonst bleiben Strukturen erhalten, die problematisch sind.

Und in neokoloniale Strukturen münden …

Genau, das sind die kolonialen Kontinuitäten. Im Wirtschaftsbereich sind sie ein zentrales Thema. Aber auch in den Fragen von Migration und Flucht und der Klimadebatte spielen sie eine zentrale Rolle. Das sind alles Themen, die ein derzeitiges ungleiches Macht- und Herrschaftsverhältnis abbilden. Die Fragen der Beschaffung der Materialien für E-Autos, bündeln diese Themen zum Beispiel. Wo kommen die Rohstoffe her und unter welchen Bedingungen? Der Globale Süden hat mit den Klimaveränderungen am wenigsten zu tun und leidet jetzt schon am meisten darunter.

Alle hier in Deutschland profitieren von den Verhältnissen, wie sie gerade sind. Aber wir müssen uns auch einfach ehrlich machen: So kann und wird es nicht weitergehen. Es gibt die Möglichkeit, dass es in Chaos und Konflikten endet. Oder wir lassen uns endlich auf den Prozess ein, der Veränderung, wirtschaftliche und gesellschaftliche Gerechtigkeit bringt. Dekolonialisierung muss alle gesellschaftlichen Bereiche in den Blick nehmen: Bildung, Justiz, Wirtschaft, Wissenschaft, Medizin, Gesundheit.

Vielen Dank an Tahir Della für diese Einblicke. Mehr zu Neokolonialismus gibt es zum Beispiel hier und zu Antirassismus, sowie genaueres zur nötigen Änderung des Staatsangehörigkeitengesetzes hier.

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