Über Neukölln und die Integrations(defizit)debatte mit Koray Yılmaz-Günay vom Migrationsrat Berlin e.V.

Vor 18 Jahren wurde der Migrationsrat Berlin e.V. als Dachorganisation von Migrant:innenvereinen gegründet. Koray Yılmaz-Günay, Co-Geschäftsführer des Migrationsrats, war auch Teil des Gründungsteams. Trotz der Herausforderungen, die die große Heterogenität der mittlerweile knapp 90 Vereine mit sich bringt, liegt in ihr auch die größte Stärke: Als der Migrationsrat Anfang der 2000er Jahre gegründet wurde, war es nicht selbstverständlich, dass Vereine gemeinsam an einem Tisch sitzen, deren Mitglieder Kriegs- und Bürgerkriegserfahrungen hatten, die aufgrund verschiedener Formen des Rassismus Diskriminierung erlebten oder aufgrund der Staatsangehörigkeit oder des Aufenthaltsstatus ganz unterschiedliche Bedürfnisse, Wünsche und Forderungen hatten. Heute ermöglicht diese Vernetzung die Artikulation gemeinsamer Forderungen und die Zurückweisung aller Formen von Diskriminierung. Ein Gespräch über die Arbeit als Dachverband, problematische Bildsprache und wie in Neukölln Integration- und Gewaltdebatten vermischt werden.

Koray, eigentlich wollte ich mit Ihnen über die geplante Reformierung des Staatsangehörigkeitsgesetzes sprechen.

Grundsätzlich kann ich sagen, dass Deutschland ein Problem mit der Fetischisierung von Staatsangehörigkeit hat. Von 1913, das Jahr in dem es beschlossen wurde, bis 2000 hat sich an diesem Gesetz beinahe nichts geändert. Vieles an diesem Gesetz war über Jahre höchstproblematisch, zum Beispiel durfte bis Mitte der 1970er Jahre nur der Vater die Staatsangehörigkeit weitergeben. Menschen, die in Deutschland geboren wurden, aber keine blutsmäßige Zugehörigkeit haben, wurden über Jahrzehnte draußen gehalten – und sie werden es auch noch bis heute, während andere, die als (Spät-)Aussiedler:innen herkamen und kommen, aber nie eine deutsche Staatsangehörigkeit besaßen, ganz selbstverständlich als Teil der Gesellschaft verstanden werden, so wie früher Menschen aus der DDR, die nach Westdeutschland flüchteten. Es wurde und wird bis heute ein Blutszugehörigkeitsdiskurs aufrechterhalten, der sehr problematisch ist.

Noch immer gibt es in dem geplanten Gesetz einen Abschnitt, der sagt, dass bei besonderen Leistungen, zum Beispiel in der Schule, die Frist für die Einbürgerung von fünf auf drei Jahre verkürzt werden kann. Bisher kann eine Einbürgerung erst nach acht – frühestens nach sechs – Jahren beantragt werden. Ist das „Gute Migrant:innen – schlechte Migrant:innen“-Narrativ in der Integration-Debatte dadurch immer noch dominierend oder ist jeder Schritt – egal wie klein – wichtig?

Jede Reform des Staatsangehörigkeitsrechts ist sinnvoll und notwendig, damit mehr Menschen die Teilhabe und damit die Zugehörigkeit zu diesem Gemeinwesen gestattet ist. Aber es ist auch wichtig, sich die Frage zu stellen was diese sagenumwobene Integration überhaupt ist. Dass Menschen, die Deutsch sprechen, weil sie hier geboren sind, weil sie hier aufgewachsen sind, weil sie hier zur Schule gegangen sind, wahrscheinlich, weil sie hier sterben werden, eigentlich Deutsche sind. Diese Vorstellung taucht in dem Wort Integration nicht auf, sondern Integration, wie sie hier verstanden wird, heißt: Ich tue Dinge, die der Dominanzgesellschaft gefallen. Das halte ich in einer demokratischen Gesellschaft für keine gute Grundlage. Diese Dinge aufzubrechen, ist wesentlich schwieriger als an kleinen Stellschrauben hier und da zu drehen. Deswegen arbeiten wir in der Kampagne PASS(T) UNS ALLEN mit vielen anderen zusammen, wo die zentralen Dinge gemeinsam angegangen werden.

Koray in seinem Büro im Gespräch mit dem Reversed-Team.

Wie meinen Sie das mit der Integration?

Wenn wir uns die Gewaltvorkommnisse in Neukölln in der Silvesternacht und die gesamte, sehr schnell folgende Integrationsdebatte– besser: Integrations-Defizit-Debatte – anschauen, dann wird einiges ausgeblendet. Unter anderem, beispielsweise, dass letztes Jahr bei einem Fußballspiel in Dresden 180 Einsatzkräfte der Polizei, Journalist:innen und Menschen, die zufällig vor Ort waren, von nicht-migrantischen Menschen verletzt wurden. Bei denen stellte sich niemand die Frage: Sprechen sie gut Deutsch? Sind sie ehrenamtlich aktiv? Sind sie in ihrem Beruf oder in der Schule erfolgreich? Denn die Faktoren sind vollkommen irrelevant. Bei Migrant:innen geht es aber sofort darum, ob sie überhaupt in der Lage sind, Teil dieser Gesellschaft zu sein. Neukölln bietet sich dafür offenbar an, so wie früher einmal Kreuzberg. Dass Gewalt gegen Einsatzkräfte zu Silvester überall in Berlin vorkam – und allein beim offiziellen Feuerwerk am Brandenburger Tor doppelt so viele tätliche Angriffe verzeichnet wurden wie in Neukölln – ist maximal eine Randnotiz. Denn damit lässt sich weder Einwanderung noch sogenannte Integration zur Schlagzeile machen

Wie sollten diese Debatten stattdessen geführt werden?

Es gibt Studien, die sich der Frage widmen: Wer wird im öffentlichen Raum wo gewalttätig? Sie werden wahrscheinlich männlich sein, nicht der Mittelschicht angehören, in der Regel zwischen 13 und 27 Jahre alt sein, sie werden sich maximal fünf Kilometer von ihrem Wohnort befinden, wenn sie gewalttätig werden. Darüber können und müssen wir sprechen: Patriarchal erzogene männliche Jugendliche stellen ein Problem für andere dar, wie ungefähr alle Formen der Männlichkeit in unserer Gesellschaft. Wenn ich aber über „migrantische“ Jugendliche mit problematischen Einstellungen oder Verhaltensweisen sprechen möchte, ist das nicht ohne Stigmatisierung möglich, weil bereits diese Problemdefinition falsch ist. Wenn ich über Migration und „Integration“ sprechen möchte, wo Geschlecht zu besprechen wäre, kann das nur auf stigmatisierende Weise passieren.

Neukölln wird ja deshalb als Ort medial auch ganz schön stigmatisiert …

Es ist tatsächlich so, dass in Neukölln gerade politisch gewollt Dinge passieren, die ein Labor sein sollen für die restliche Berliner Stadtgesellschaft, wie es scheint. Verbundeinsätze der Berliner Polizei, die mit dem Neuköllner Ordnungsamt stattfinden und häufig genug von der Boulevardpresse begleitet werden, bei denen zum Teil hunderte Beamte für 15–30 Minuten eingesetzt werden, damit am nächsten Tag ein Foto mit Schlagzeile erscheinen kann. Dabei wird aber nichts gefunden außer mal erhöhte Kohlenmonoxid-Belastungen in Shisha-Bars oder schlechtgewordene Lebensmittel, was natürlich schlimm genug ist. Aber die Frage ist doch, warum das Ordnungsamt von der Polizei als Türöffner benutzt wird, um ganz andere, politisch motivierte, Ermittlungen zu führen. Wenn dort Waffen oder Drogen gefunden würden, wenn dort Belege für Geldwäsche gefunden würden, wenn dort irgendein Anzeichen von organisierter Kriminalität gefunden würde, würde ich sagen: Na ja, nicht schön, dass da die Gewerbekontrollen zur Verbrechensbekämpfung genutzt werden, aber hat ja Erfolg gezeitigt. So aber müssen wir davon ausgehen, dass dort genau das passiert, was vorher schon politisch als Ziel formuliert war: die sogenannte Clan-Kriminalität.

Es wird aber nichts gefunden?

Genau. Wenn diese Razzien, die einzelne Geschäfte, einzelne Personen, den gesamten Bezirk und ganze Communitys stigmatisieren, jahrelang stattfinden, ohne dass irgendwas zu organisierter Kriminalität rauskommt, dann ist die Frage, warum die Bundes-Innenministerin und die Berliner Innensenatorin diesen Fokus auf die sogenannte Clan-Kriminalität legen und dort so viele Ressourcen reinstecken. Neukölln soll offenbar zeigen: Wie weit können wir gehen? Da werden rechtsstaatliche Prinzipien gebrochen, da wird die Glaubens- und die Religionsfreiheit in Frage gestellt, da wird die Gewerbefreiheit eingeschränkt, da werden Menschen durch den Einsatz von Beamt:innen mit staatlichem Geld pauschal stigmatisiert und kriminalisiert. Es läuft mir eiskalt den Rücken runter, auf welche Weise rassistische Diskurse zu Behördenhandeln werden.

Und ein konstruktiver Beitrag zur Debatte sind die Einsätze erst recht nicht, wenn „Integration“ immer in den Mittelpunkt gestellt wird …

Ich glaube, ich hätte nichts dagegen, sich sozial und räumlich konkret anzuschauen, was an einem bestimmten Ort los ist, wenn es inhaltlich darum ginge, Jugendarbeitslosigkeit zu verringern, Bildungserfolg zu erleichtern oder gesellschaftliche Teilhabe zu ermöglichen. Nur: Die Ethnisierung sozialer Probleme trägt dazu gar nichts bei. Dadurch werden seit Jahrzehnten Probleme verschärft.

Was trägt Ihre Arbeit als Dachverband von Migrant:innenorganisationen dazu bei, dass sich etwas ändert?

Wir sind ein Dachverband für große Organisationen, die beispielsweise Kindergärten oder Beratungsstellen unterhalten, aber auch für Organisationen, die nicht einmal eine eigene Website haben, weder Telefon noch Personal. Wenn ein Verein – ob mit Behörden oder Organisatorischem oder ganz konkreten Fällen – ein Problem hat, dann gucken wir, wie wir als Dachorganisation helfen können. Wir stellen Räume zur Verfügung und vernetzen, mit anderen migrantischen Mitgliedsorganisationen, aber auch anderen rassismuskritischen oder dekolonialen Initiativen. Vieles davon bleibt unsichtbare Arbeit. Den erwähnten medialen und politischen Diskursen kann aber nur auf organisierte Weise etwas entgegengesetzt werden.

Ist das nicht manchmal ein wenig undankbar?

Nein. Hübsche Fotos für die sozialen Medien haben sicherlich ihre Legitimität, aber sie rücken vor allem Einzelfälle in den Fokus – die natürlich auch ihre Legitimität haben. Aber oft steckt hinter Fortschritten jahrelange Arbeit, die sich eben nicht so gut abbilden lässt. Ein Negativbeispiel ist sicher das Hilfsorganisationen-Unwesen, wo mit besonders aufrüttelnden, schockierenden, dramatischen, traurigen Bildern Politik gemacht wird, was aber immer darauf hinausläuft, dass damit Geld gemacht werden und Spenden akquiriert werden soll. Das führt zu einem ganz starken Missverhältnis in der Bildsprache, so auch dazu, dass eine sanfte Terminologie gewählt wird, damit weiße, deutsche und christliche Spender:innen ihr Geld geben. Wofür die migrantische Zivilgesellschaft in Deutschland und die progressive Zivilgesellschaft im Globalen Süden seit Jahren und Jahrzehnten kämpfen, wird dadurch überblendet.

Warum ist das problematisch?

Medienwirksame Bilder reproduzieren oft inhaltlich problematische Bilder. Viele Organisationen, die zum Teil widerwärtige öffentliche Präsentation und Repräsentation schaffen, haben oft – obwohl sie es gut meinen – verheerende diskursive Folgen. Es geht da beispielsweise um Vorstellungen von Fortschritt und Zurückgebliebenheit. Oder um die Rolle das Patriachats und wer seine Opfer sind und warum? Woran es liegt, dass Leute mit menschenunwürdigen Lebensbedingungen konfrontiert sind? Das geht häufig verloren, ist aber der Kern. Ich bin stolz auf unsere Arbeit im Hintergrund, auch wenn am Ende kein Foto dabei rauskommt. Und, das finde ich besonders wichtig: Wir fallen nicht auf irgendwelche Integrationsdebatten rein, die längst notwendige Veränderungen wie beim Wahlrecht und bei Einbürgerungen immer wieder in den Hintergrund drängen.

Mehr Artikel zu Stigmatisierung und sozialer Gerechtigkeit gibt es hier.

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