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In den vergessenen Geflüchtetencamps von Calais

Im Geflüchtetencamp in Calais laufen zwei Männer (von hinten) an Zelten durch auffliegende Möwen durch. Es dämmert.

Seit September 2022 ist der Verein No Border Medics e.V. (NBM) in Loon-Plage, einer kleinen Gemeinde zwischen Calais und Dünkirchen in Nordfrankreich, aktiv. Die Nichtregierungsorganisation (NGO) aus Hamburg leistet ehrenamtlich medizinische Erstversorgung für geflüchtete Menschen. Mit einfachen Mitteln und qualifizierten Freiwilligen bietet No Border Medics e.V. dringend benötigte Hilfe. Das folgende Interview mit Katharina, einer der Koordinatorinnen des Teams, gewährt detaillierte Einblicke in ihre Arbeit vor Ort und zeigt auf, wie Unterstützung geleistet werden kann.

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Wie nimmst du die Entwicklung der Situation in der Region um Dünkirchen und Calais wahr?

Katharina: Seit meinem ersten Aufenthalt für No Border Medics in Dünkirchen ist die Grenze stark frequentiert, aber nur wenige reden darüber. Diese EU-Außengrenze findet in den Medien kaum Beachtung. Alle reden über die griechischen Inseln, aber kaum jemand spricht über Nordfrankreich. In diesem Sommer haben in manchen Nächten 500 bis 600 Menschen versucht den Kanal zu überqueren. Im Gegensatz zum letzten Jahr war dieser Herbst auch hoch frequentiert. Es waren sehr, sehr viele Menschen hier. Es gibt dafür unterschiedliche Gründe. Zum einen fliehen mehr Menschen, zum anderen geht die Polizei härter gegen die Geflüchteten vor und verhindert mehr Überfahrten… Das bedeutet, dass hier noch mehr Menschen feststecken.

Die Leute kommen aus Ländern wie dem Irak, Iran, Somalia, Südsudan und Sudan. Man merkt jedoch auch, seit die Revolution im Iran begonnen hat, dass viele Leute hierhergekommen sind, die erst seit kurzem auf der Flucht sind. Meistens haben sie das Ziel weiterzukommen, sie wollen nicht in der EU bleiben. Zwei Gruppen, die ich noch nennen möchte, sind Menschen aus Sri Lanka und Punjabis, die als größte Minderheit in Indien leben. Man sieht hier in der Distribution Area regelmäßig 15 bis 20 Personen. Das bedeutet, dass hier im Umkreis bestimmt 40 bis 50 Personen dieser Community leben. Das ist wichtig, das nicht zu vergessen – diese Gruppe hat man nämlich nicht auf dem Schirm.

Viele Leute waren bereits längere Zeit in Deutschland, Belgien oder Schweden und haben dort bereits eine Ausbildung gemacht. Sie sprechen die jeweilige Sprache super gut. Während unserer Behandlungen sprechen wir Deutsch mit einigen unserer Patient*innen. Dann gibt es aber zum Beispiel Punjabis, die als Minderheit verfolgt werden und erst kurze Zeit auf der Flucht sind und zu ihrer Verwandtschaft in der UK wollen.

Seit wann ist No Border Medics als NGO aktiv, und welche Aufgaben übernehmt ihr konkret?

Katharina: NBM ist seit einem Jahr aktiv, seit Herbst 2022. Die Organisation besteht ausschließlich aus ehrenamtlichen Mitgliedern. Wir sind sechs Tage die Woche in Dünkirchen und behandeln Patient*innen. Immer ab 10:00 Uhr morgens sind wir vor Ort und packen dann bei Einbruch der Dunkelheit wieder ein. Es gibt zwei feste freiwillige Koordinator*innen und im Schnitt weitere vier bis fünf Volunteers im Team – immer Ärzt*innen und Krankenschwester/Krankenpfleger. Bislang sind wir ausschließlich an diesem Ort im Einsatz, denken aber darüber nach, zu expandieren.

Warum habt ihr euch als Verein für die Arbeit in Nordfrankreich entschieden?

Katharina: Es gibt andere medizinische Organisationen, die an verschiedenen Orten entlang der europäischen Außengrenzen aktiv sind. Wir haben dann mitbekommen, dass es dringend Bedarf gibt. In Nordfrankreich gibt es viele geflüchtete Menschen, die Grenze ist entsprechend hoch frequentiert, findet dabei aber viel zu wenig Beachtung. Wenige Leute haben den Norden Frankreichs auf dem Schirm, wenn es um die Situation an den europäischen Außengrenzen geht.

Daraufhin sind einige von uns hierhergekommen und haben sich Ort und Situation genau angeschaut. Dann war es ‚learning by doing‘ – wir mussten schauen, was konkret die Bedürfnisse der Leute sind. Zeitgleich hat sich NBM offiziell gegründet und wurde als Verein eingetragen. Wir sind im vergangene Jahr klein gestartet und seitdem gewachsen: Anfangs hatten wir lediglich ein Auto und ein kleineres Zelt, das über das Dach des PKW gespannt wurde. Wir haben die Leute aus dem Auto heraus behandelt. Mit der Zeit wurde ein größeres Zelt angeschafft, der Van kam dazu und wurde für unsere Zwecke ausgebaut.

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Wie wirkt sich die aktuelle Abschottungspolitik der EU auf die Menschen in Calais aus?

Katharina: In meinen Augen wird alles immer restriktiver und schlechter. Ich habe das Gefühl, als vor Lampedusa 2013 die Boote untergegangen sind, war jeder noch schockiert und hat sich gefragt, wie so etwas passieren kann. Aber jetzt? Niemand kennt die Zahlen mehr oder was aktuell im Mittelmeer passiert. Manche Orte wie Dünkirchen sind überhaupt nicht bekannt; niemand weiß, welche Probleme die Menschen hier haben oder wie viele versuchen, den Ärmelkanal zu überqueren. Ich finde, das ist so ein rassistischer Diskurs der EU – es gelten nicht einmal mehr grundlegende Human Rights, wie beispielsweise der Zugang zu Trinkwasser. Leute haben Gründe, warum sie ihre Länder verlassen, aber all das zählt hier nicht mehr und wird nicht im öffentlichen Diskurs behandelt. Ich habe das Gefühl, dass bei Beschlüssen wie ‚GEAS‘ (Reform des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems) deshalb der Aufschrei ausbleibt. Das zeigt, wie restriktiv diese Politik ist.

Welche Art der medizinischen Versorgung bietet ihr an?

Katharina: Wir bieten medizinische Erstversorgung. Patient*innen kommen zu uns und teilen uns ihre Bedürfnisse mit. Wir versuchen uns dann bestmöglich darum zu kümmern. Hauptsächlich haben wir es mit Wundversorgung, Erkältungen und Krätze zu tun. Wir versuchen, so gut wie möglich zu behandeln, wobei einige Dinge, wie die Wundversorgung, eine gewisse Zeit benötigen. Dennoch sehen wir, dass die Wunden, die wir behandeln, besser werden – wenn die Leute täglich wiederkommen.

In Notfällen, die wir vor Ort nicht behandeln können, rufen wir für unsere Patient*innen einen Krankenwagen. Derzeit gibt es einige Familien, aber auch Frauen mit kleinen Kindern, teilweise Babys, die wir behandeln. Eine Zeitlang kam ein alleinstehender Vater mit seinen fünf kranken Kindern regelmäßig zu uns. Hier sind die Krankheitsbilder und Bedarfe ähnlich derer, die wir sonst behandeln. Nur ist es für Babys und Kinder eben noch schlimmer, als es das eh schon für junge Erwachsene ist – hier, unter diesen Umständen, wieder gesund zu werden.

Camp, Dünkirchen (Nordfrankreich)

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Rund um Calais kommt es immer wieder zu Räumungen der Camps durch die französische Polizei. Was kannst du hierzu berichten?

Katharina: Es gibt viele und sie finden regelmäßig statt. Alleine in diesem Winter gab es große Räumungen. Es sind nicht immer die ganzen Camps: manchmal zerstören sie ‚nur‘ einen Teil der Zelte und Gegenstände der Leute, manches Mal alles was die Leute haben. Wenn die neuen Camps sich dann verlagern, ziehen wir mit ihnen mit. Wenn ich also sage, dass wir immer an diesem Ort sind, meine ich die Gegend um Loon-Plage, in der die verschiedenen Communitys in Camps leben. Jedes Mal, wenn ich für NBM hierher zurückkomme, sind wir an einer anderen Stelle, bzw. die Distribution-Area hat gewechselt. Innerhalb eines Jahres war ich bereits an fünf oder sechs Orten.

Welche Unterstützung bzw. welches medizinische Material benötigt ihr für eure tägliche Arbeit?

Katharina: Hygieneartikel wie Taschentücher, Rasierer, Kondome, Masken, Zahnpasta und Zahnbürsten – das sind Sachen, die wir immer brauchen. Medizinische Cremes und Salben, insbesondere für die Wundversorgung und Verbrennungen, werden immer gebraucht, sind aber auch relativ teuer. Wenn es da Leute gibt, die uns damit aushelfen können, wäre das super.

Was motiviert dich persönlich, hier zu arbeiten?

Katharina: Ich habe einen Bachelor in Sozialer Arbeit und einen Master in Interkulturalität und Integration. Akademisch habe ich mich immer schon mit Flucht beschäftigt – warum fliehen Menschen und wie könnte man sie bestmöglich unterstützen. Ich war zuvor an anderen europäischen Außengrenzen, habe dort in Refugee Camps gearbeitet, war aber auch in Stuttgart, der Stadt aus der ich komme, aktiv und habe mich damit beschäftigt, warum Geflüchtete einfach nicht das vom Staat bekommen, was ihnen zustehen sollte. Deshalb habe ich mich für diese Arbeit hier entschieden und versuche mein Bestes – aus einem politischen und kritischen Hintergrund.

Ich finde es einfach nicht okay, dass Leute hier kein Trinkwasser haben, keine medizinische Versorgung, kein Essen, und all das wird dann von privaten Organisationen aufgefangen. Für mich ist das ganz klar die Aufgabe der Europäischen Union. Solange sie dem aber nicht nachkommt, ist es für mich ein wichtiger und humanitärer Anspruch, dass das hier funktioniert – deshalb bin ich hier.

Wir als NBM sind zunächst für eine medizinische Grundversorgung da, aber ich denke, medizinische Versorgung sollte in einem Kontext passieren und wir müssen benennen, dass das, was hier passiert, einfach nicht richtig ist: Hier kämpfen Leute bei Minusgraden draußen um eine Decke oder ein Pflaster und wir sehen ja, was passiert, wenn sich um diese Dinge nicht gekümmert wird. Menschen kommen mit riesigen Wunden zu uns, weil sie – trotz der widrigen Wetterbedingungen – versuchen, den Ärmelkanal nach UK zu überqueren.

Vor wenigen Tagen hatten wir eine Person, die es versucht hat, es aber nicht geschafft hat. Sein kompletter Körper war voller Treibstoff, weil auf dem Boot wohl etwas passiert ist und die Leute wieder zurückkommen mussten. Wir haben ihn medizinisch versorgt und in diesem Fall seine Kleidung mitgenommen und sie für ihn gewaschen. Das fällt grundsätzlich nicht in unseren Aufgabenbereich. Wenn aber so etwas Schlimmes passiert ist und die Person damit zu uns kommt, dann versorgen wir sie nicht nur medizinisch und sagen: Das war es dann! Das passiert in einem Kontext, indem Personen ansonsten nicht die Humanität erfahren, die ihnen zusteht. Und das ist dann als Verein auch wichtig das laut zu sagen.

Camp, Dünkirchen (Nordfrankreich)

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Welche Verbesserungen oder Änderungen der EU-Grenzpolitik sind deiner Ansicht nach notwendig, um die Situation für Geflüchtete zu verbessern?

Katharina: Offene Grenzen und eine humanitäre, würdige Asylpolitik. Es ist außerdem notwendig, eine bessere Infrastruktur für Menschen auf der Flucht zu schaffen, die grundlegende Bedürfnisse wie Essen, Zugang zu Trinkwasser und medizinische Versorgung umfasst. Und das sollte staatlich finanziert werden. Dieser ganze rassistische Diskurs: Hier werden Leute schräg angesehen und schlecht behandelt, wenn sie einkaufen gehen. Sie haben das Gefühl alleine auf der Welt zu sein, und fragen sich zugleich was sie getan haben, dass sie so behandelt werden. Sie kommen aus Kriegsländern, sind geflohen und jetzt stehe hier mit Flipflops im Matsch. Die Gesellschaft sollte verstehen, dass wir alle Menschen sind und dass alle Leute es verdient haben, angemessen humanitär versorgt zu werden, und dass man für sie da ist! Das eine wünsche ich mir seitens der Bevölkerung, das andere von der Politik.

beide Bilder Camp & Distribution-Area in Loon-Plage

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Mehr Informationen zur aktuellen Situation:

Die Situation für Geflüchtete in und um Calais wird seit Jahren als inakzeptabel und unzureichend wahrgenommen und stellt eine bedeutende Herausforderung für die betroffenen Menschen und die involvierten NGOs dar. Aktuell hat sich die Lage weiter verschärft, die Anzahl der Personen, die auf Unterstützung angewiesen sind, ist erheblich gestiegen. Im Vergleich zu den vorangegangenen Wintern, in denen etwa 800 Personen an den Standorten Calais und Dünkirchen ausharrten, liegt die Zahl derzeit bei rund 2.000 bis 2.500 Menschen. Die Angaben basieren auf der Arbeit von Hilfsorganisationen vor Ort, da hierzu keine offiziellen Zahlen vorliegen.

Diese Entwicklung führt u. a. zu einer verstärkten Nachfrage und einem erhöhten Bedarf an Hilfsgütern. Die widrigen Wetterbedingungen im Jahr 2023, einschließlich schwerer Stürme, Regenfälle und Wind in der Region, haben die Situation zusätzlich erschwert. Mangelnde staatliche Unterstützung und Unterbringung von Schutzsuchenden führen dazu, dass tausende Menschen auch in den Wintermonaten im Freien ausharren.

Gewaltsame Räumungen, extreme Wetterbedingungen und fehlende staatliche Unterstützung verschärfen die Situation für derzeit tausende Geflüchtete in Nordfrankreich. Bei den regelmäßigen Räumungen der Camps sind körperliche Übergriffe und der Einsatz von Tränengas durch die französische Polizei an der Tagesordnung. Dabei werden nicht nur sämtliche persönlichen Gegenstände, sondern auch dringend benötigte Hilfsgüter wie Zelte, Schlafsäcke und wärmende Kleidung der Geflüchteten konfisziert oder zerstört.

Gespräche mit direkt betroffenen Menschen verdeutlichen, dass diese traumatischen Erlebnisse bei jenen, die zuvor vor Folter, Krieg und Verfolgung geflohen sind, erneut schwerwiegende Auswirkungen auf ihre psychische Gesundheit haben. Gleichzeitig werden NGOs vor Ort gezielt von der Polizei daran gehindert, Hilfsmittel und Trinkwasser für Schutzsuchende bereitzustellen, indem ihnen der Zugang zu Ausgabestellen verweigert wird. Helfer*innen sollen Berichten zufolge willkürlich bei ihren Tätigkeiten festgenommen und bis zu 24 Stunden in Polizeigewahrsam genommen werden.

Fehlende sicherer Fluchtwege, unter anderem nach Großbritannien, zwingen Schutzsuchende weiterhin zu riskanten Überfahrten in Schlauchbooten über den Ärmelkanal. Diese lebensgefährlichen Versuche, nach Großbritannien zu gelangen, spiegeln die Verzweiflung und Not der Menschen wider, die weder angemessenen Schutz noch Unterstützung erfahren. Helfer*innen vor Ort betonen die Dringlichkeit humanerer Bedingungen im Umgang mit Geflüchteten und fordern eine reformierte Asylpolitik seitens der EU, die den Bedürfnissen der Menschen gerecht wird. Es wird außerdem darauf hingewiesen, dass es an medialer und allgemeiner öffentlicher Aufmerksamkeit für die Situation der Geflüchteten an den Außengrenzen Europas, insbesondere in Nordfrankreich, mangelt.

beide Bilder Camp, Dünkirchen

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No Border Medics e.V. könnt ihr auf ihrer Website oder via Instagram unterstützen.

Text & Fotos: Judith Büthe / www.judith-buethe.de

Mehr zum Thema Flucht lest ihr zum Beispiel hier oder hier.

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