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Zum Weltflüchtlingstag: Wir müssen darüber sprechen, wie wir über Flucht sprechen

Alle Menschen haben das Recht auf Schutz – alle, immer, überall. So lautet das diesjährige UNHCR-Motto für den heutigen Weltflüchtlingstag.

Weniger als zwei Wochen nachdem der Innenminister:innenrat der EU der mehr als umstrittenen und menschenrechtsverachtenden GEAS-Reform zugestimmt hat, klingt das mehr als ironisch. Und weniger als eine Woche, nachdem auf dem Mittelmeer ein Boot mit Hunderten Menschen an Bord kenterte, klingt es nach einer leeren Worthülle. Welche Länder und Regierungen meinen es überhaupt wirklich ernst mit dem Schutz der Menschen in Not?

Aktuell: Wie das ZDF flüchtende Menschen framed

Auch die Medien müssen sich an ihre eigene Nase fassen: vor vier Tagen veröffentlichte das ZDF einen Beitrag, der ein Balkendiagramm zeigt: Zum ersten Mal seit 2015/2016 denkt eine Mehrheit von 52 Prozent der Deutschen, dass Deutschland es nicht mehr „verkraften“ kann, die schutzsuchenden Menschen aufzunehmen. Die beiden Posts – der, der über das Unglück berichtet und das Balkendiagramm – sind übrigens zwei direkt aufeinanderfolgende Beiträge. Bei dem Timing kann man von Geschmacklosigkeit schon nicht mehr sprechen. Im Gegenteil. Es dreht sich einem der Magen um.

Viel schlimmer ist aber noch das Framing des ZDF-Beitrages: Nicht nur verwendet er den weit etablierten und dennoch problematischen Begriff der „Flüchtlingskrise 2015/2016“, der verkennt, dass der Krieg in Syrien die Menschen zur Flucht zwang. Sondern im Beitragstext steht auch „[…] dass Deutschland die vielen Flüchtlinge nicht verkraften kann“. Der Zusatz, die Menschen als „viele“ zu bezeichnen, ist hochgradig schwierig. In welchem Verhältnis steht „viele“? Zu damals? Zu den letzten Jahren? Ab wie vielen Menschen sind sie „viele“? Eine Zahl, eine Einordnung, ein Verhältnis wird nicht genannt. Das „viele“ steht kontextlos dort und tut damit nichts weiteres, als eine sowieso schon von Unmenschlichkeit geprägte Debatte künstlich, unsachlich und unjournalistisch anzuheizen.

Das, liebes ZDF, sollten wir besser machen. Denn es ist auch eine mediale Verantwortung, wie im Land über politische Themen gesprochen wird, so viel ist doch allen klar.

Zahlen zum Weltflüchtlingstag

Weshalb findet man also heute am Weltflüchtlingstag auf den Seiten von ZDF und co. nichts darüber, dass

  • Sich Ende 2021 mindestens 89,3 Millionen Menschen auf der ganzen Welt gezwungen sahen, aus ihrer Heimat zu fliehen. Viele von ihnen sind Binnenvertriebene.
  • Unter ihnen waren aber auch fast 27,1 Millionen Flüchtlinge (Definition gemäß Artikel 1 der Genfer Flüchtlingskonvention)
  • Von ihnen ist etwa die Hälfte unter 18 Jahren alt.
  • Mit dem russischen Angriffskrieg auf die Ukraine ist die Zahl der weltweit Vertriebenen auf 100 Millionen gestiegen. 2012 waren es keine 50 Millionen. Die Zahl hat sich also verdoppelt.
  • Ungefähr einer von 80 Menschen befindet sich derzeit auf der Flucht. (alle Zahlen bis hierher von UNHCR.)
  • 2021 hat die EU nur 0,6 flüchtende Menschen auf 100 Einwohner:innen aufgenommen. Deutschland 1,5, Libanon 12,5 (statista).
  • Das Mittelmeer gilt als die gefährlichste Fluchtroute der Welt (tagesschau).
  • Zwischen Januar bis März 2023 starben so viele Menschen bei der Flucht über das Mittelmeer wie in den vorigen sechs Jahren nicht mehr (tagesschau).
  • Seit 2014 sind mehr als 20.000 Menschen auf der zentralen Mittelmeerroute ums Leben gekommen. Und die Zahl ist wahrscheinlich noch viel höher, weil viele der Menschen nie gefunden werden (ebd.)
  • In den letzten 30 Jahren sind über 52.760 Menschen auf dem Mittelmeer gestorben. (United List of death)

Diese Zahlen sind bitter, tun weh, heute am Weltflüchtlingstag genauso wie jeden Tag. Und sie sind keine Zahlen, jede von ihnen ist ein Mensch. Wie können die europäischen Regierungen es verantworten, einer Verschärfung des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems (GEAS) zuzustimmen?

staatliche und mediale Verantwortung

Ganz klar ist: Die vielen zivilen Organisationen und Seenotrettungsinitiativen, die vielen NGOs und engagierten Menschen leisten die Arbeit, die die Staaten ignorieren und erschweren. Das sollte doch eigentlich die Medien auf den Plan rufen. Welche Rechtfertigung haben sie, die grausame Realität der flüchtenden Menschen zu ignorieren und stattdessen schlicht und ohne Einordnung zu betonen, sie seien „viele“? Während ihre Reichweite genutzt werden könnte, um zu zeigen: So, wie es ist, kann es auf keinen Fall weitergehen.

Denn alle Menschen haben das Recht auf Schutz – alle, immer und überall. Und nicht nur am Weltflüchtlingstag.

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