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Weshalb wir eine feministische Medizin brauchen

Kürzlich titelte das ZDF, dass ein türkischer oder nigerianischer Name die Wahrscheinlichkeit für einen Ärzt:innentermin um bis zu acht Prozent senkt. In der Dosierung von Medikamenten wird ein weißer, cis-männlicher Körper fälschlicherweise als für alle Menschen gleich geltender Standard angenommen, was zu Fehlbehandlungen von Menschen führen kann, die diesem Ausgangspunkt nicht entsprechen. Diese Liste ließe sich beliebig um unendlich viele Statistiken, persönliche Beispiele und Erfahrungsberichte von Rassismus, Ableismus, Misogynie, Ageismus und vielen weiteren Diskriminierungsebenen erweitern. Was sie gemein haben, ist die strukturelle Diskriminierung marginalisierter Gruppen in der Medizin. Der Verein Feministische Medizin e.V. arbeitet seit nunmehr vier Jahren daran, dagegen vorzugehen.

Mitmachen können alle FLINTA*, die einen Bezug zum medizinischen System haben: Ob Medizinstudent:in, Hebamme, Sexolog:in, Medizinanthropolog:in oder Ärzt:in. Die fachliche Vielfalt der Mitglieder ist gleichzeitig die Stärke des Vereins. In ihren Positionspapieren, auf Diskussionsveranstaltungen und in Hintergrundgesprächen finden so andere, seltener gehörte politische Stimmen aus der Medizin einen Platz im Diskurs, welche diese jahrhundertealte Profession aufrütteln und modernisieren wollen: Damit alle Menschen einen gleichen Zugang zu guter Gesundheitsversorgung haben.

Hinweis: Aus dem gleichen kollektiven Gedanken heraus haben wir in einem Kollektivinterview mit mehreren Mitgliedern des Vereins gesprochen. Sie möchten geschlossen als Feministische Medizin e.V. genannt werden und wir begrüßen diese weniger personenzentrierte Herangehensweise. Interessanterweise haben beinahe alle Vereinsmitglieder betont, dass unser Einverständnis zum Kollektivinterview etwas ist, das sie so in der Regel weniger erfahren. Wir sehen in dieser unkonventionellen Herangehensweise auch eine riesige Möglichkeit für journalistische Arbeit: Häufig sprechen wir mit ausgebildeten Pressesprecher:innen, die politische Antworten geben. Dieses professionelle Auftreten nach außen hin ist für viele Arbeitsfelder in fragilen Kontexten sehr wichtig. Allerdings profitieren wir als redaktionell arbeitende Menschen doch auch massiv von einer Vielzahl an Perspektiven, die eng an den Themen dran sind.

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Was macht die Medizin zu einem konservativen Feld mit verstaubten Praktiken, das Interventionen bedarf?

Feministische Medizin: In der Medizin gibt es auf allen Ebenen Diskriminierungen und ungerechte Behandlungen, die oftmals nicht mal gesehen werden. Wir sprechen hier immer von einem Dreiklang, der betroffen ist: Lehre, Forschung, medizinische Praxis. Und: Menschen in Machtpositionen im Gesundheitssystem haben oft ähnliche Privilegien, sind von wenigen Diskriminierungsformen selbst betroffen und treffen gleichzeitig weitreichende Entscheidungen, die für alle gelten. Sie profitieren von einem System, dessen Missstände sie zu selten erkennen und bekämpfen. Und diese Haltung geben sie weiter. Für eine feminisistische Medizin einzutreten, bedeutet deshalb für uns vor allem Intersektionalität: einen in der Arbeit von Schwarzen Feminist:innen begründeten Gegenentwurf zum kapitalistischen, heteronormativen Patriarchat.

Habt ihr Beispiele, worin sich letzteres konkret äußert?

Feministische Medizin: Selbst in guten Praxen stehen Ärzt:innen im Schnitt nur sieben Minuten pro Patient:in zu Verfügung. Das ist das Ergebnis eines Systems, in dem Kosteneffizienz und Profitmaximierung eine immer größere Rolle spielen. Unter diesen Bedingungen ist kaum Zeit, Patient:innen vollständig zu untersuchen und als Menschen kennen zu lernen, jenseits von Klischees und Schubladendenken. Und, gleichzeitig zu diesen strukturellen Fragen, bringen Ärzt:innen, Krankenpfleger:innen und andere Berufsgruppen ihre eigenen Vorurteile mit in die Arbeit. 

Wie konnte das soweit kommen?

Feministische Medizin: Zum ersten Punkt ist der Faktor Zeit unmittelbar an den Kapitalismus geknüpft. In den 00er und frühen 10er Jahren wurden die Diagnosis Related Groups (DRG), die diagnosebezogenen Fallgruppen eingeführt. Vorher war das System natürlich auch nicht perfekt, aber je länger man einen Fall vor Ort im Krankenhaus behielt, desto mehr Geld hat das Krankenhaus bekommen. Aber seit der Einführung der DRG ist es so, dass ein Krankenhaus so viele Fälle wie möglich betreuen muss. Und damit ein Bett frei wird, muss man die vorherigen Patient:innen eben schneller entlassen. Das ist jetzt zwar schon sehr systemisch, aber es ist wichtig über Zeit als Ressource im Kapitalismus nachzudenken. Und zum zweiten: Gesundheitspersonal wird, wie alle, in einer strukturell rassistischen, diskriminierenden Gesellschaft ausgebildet, und darin werden bestimmte Muster erlernt. Und das überträgt sich auf die Arbeit in der Klinik.  

Apropos Arbeitszeit. Weshalb ist es in Krankenhäusern noch immer gang und gäbe, dass in so enorm langen Schichten gearbeitet wird?

Feministische Medizin: Manche Arbeitende in Krankenhäusern haben 60- bis 100-Stunden-Wochen. Das ist ein massives Problem: was Schlafmangel mit Menschen macht, ist mittlerweile gut erforscht. Wir wissen, wie schnell die Konzentration nachlässt und wie viele Fehler dann gemacht werden. Aber Ärzt:innen müssen häufig 24 bis 48 Stunden durcharbeiten. Das hat unter anderem damit zu tun, dass es wenig politische Mobilisierung und Arbeitskampf unter Ärzt:innen gibt: Es ist einfach keine Tätigkeit, in der historisch viele Menschen aus der Arbeiter:innenklasse kommen, die wissen, wie wichtig das ist.

Dazu kommt ein Generationenkonflikt: Diejenigen, die jetzt Chefärzt:innen sind, stammen meist aus einer Generation, die dem jüngeren Personal vorhalten, wie gut sie es denn unter den jetzigen Bedingungen hätten; damals hätte es 72-Stunden-Dienste gegeben. Aber auch vor der Neoliberalisierung waren Krankenhäuser schon immer große Stützen eines sexistischen, patriarchalen und insbesondere eines rassistischen Systems. Der klinische Blick war einfach schon immer ein normativer: Einer, der Menschen kategorisiert, einteilt, analysiert und auf ihre Organe reduziert.

Wie kommt man – wie kommt ihr – da raus? Wie kann feministische Medizin helfen?

Feministische Medizin: Wir sind in diesem System, profitieren von ihm, arbeiten darin und erhalten gesellschaftliches Ansehen. Wir unterstützen es auch durch unsere Arbeitszeit in unseren jeweiligen Jobs. Für viele von uns ist deshalb der Verein Feministische Medizin eine große Möglichkeit, diesem Zwiespalt zu begegnen. Er hilft, mit den Privilegien, die wir durch unsere Tätigkeiten erhalten, umzugehen und Wege zu finden, das System zu ändern. Er schafft Perspektiven und einen Ausgleich und den Rahmen, vielleicht mehr zu erreichen als allein.

Das klingt gut. Habt ihr dafür ein Beispiel?

Feministische Medizin: Zum Beispiel hat jemand von uns als Hebamme in einer großen Klinik gearbeitet und sich dann entschieden, sich selbstständig zu machen. Weil die Person mit den patriarchalen Umständen in der Klinik der Meinung war, dort keine gute Arbeit mehr leisten zu können. Aber auch eine Selbstständigkeit operiert in dem gleichen System: Man ist in dem Kassensystem gefangen, in dem der ärztlichen Kontrolle, in den Verhandlungen mit der gesetzlichen Krankenversicherung. Und wenn man die kassenärztliche Zulassung nicht bekommt, arbeitet man privat. Aber dann ist es auch wieder nur eine privilegierte Gruppe an Leuten, die sich eine private Hebamme leisten können. Man macht einen Schritt nach dem anderen und stellt fest, dass man dem System aber eben nicht entkommen kann. Und selbst, wenn man es verlässt und sich umorientiert, ist man dennoch immer Patient:in, Angehörige:r und so weiter. An solchen Stellen kann der Verein auch ganz persönlich zeigen: Wir haben ähnliche Probleme, können uns hier unterstützen und gemeinsam Veränderungen erreichen.

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Wie arbeitet ihr bei Feministische Medizin konkret intersektional?

Feministische Medizin: Natürlich beschäftigen uns Fragen nach paritätischer Besetzung der Krankenhausführungsebene, Alltagssexismus und co. Wir tauschen uns viel darüber aus und versuchen, Antworten darauf zu finden. Doch dabei wollen wir es nicht belassen. Eine paritätisch besetzte Krankenhausführung ist nicht die Lösung für alle Missstände. Es ist eine von vielen wichtigen Änderungen, aber auch in so einem Krankenhaus können Menschen schlecht versorgt und diskriminiert werden. Und auch geschlechtssensible Medizin hört nicht einfach beim Geschlecht auf. Das ist ein möglicher Anfang.

Uns ist es wichtig, verschiedene Ebenen zu verknüpfen. Ein Beispiel: Die Themen Schwangerschaftsabbruch und Periodengesundheit müssen nicht nur anti-sexistisch betrachtet werden, sondern auch anti-klassistisch und anti-rassistisch. Jede:r muss Zugang zu Schwangerschaftsabbrüchen und Periodenprodukten haben, unabhängig der eigenen finanziellen Situation! Die größere Frage ist hier also: inwiefern hängen Armut und der Zugang zu Ressourcen mit Gesundheit im Patriarchat zusammen.

Uns ist es sehr wichtig mit anderen Organisationen zusammenzuarbeiten, die unglaublich wichtige Arbeit in ihren Schwerpunktbereichen leisten. Denn nur gemeinsam sehen wir die Möglichkeit eine Änderung zu erreichen. Wenn wir auf Panels oder ähnlichem eingeladen sind, dann versuchen wir, diese verschiedenen Fragen in einen größeren Zusammenhang zueinander zu stellen: dass wir in einem patriarchalen, rassistischen, ableistischen und kapitalistischem System leben und arbeiten.

Welchen politischen Rahmen bräuchtet ihr noch, um mit Feministische Medizin noch mehr zu erreichen?

Feministische Medizin: Es braucht mehr Zusammenarbeit zwischen Disziplinen und Berufsgruppen, und vor allem mit Patient:innen und Betroffenen selbst: Top Down genauso wie Bottom Up. Gleichzeitig wünschen wir uns mehr Wertschätzung und Anerkennung unterschiedlicher Formen von Wissen und Expertise. Ein Beispiel ist das Thema Endometriose: in den letzten Jahren wurde diese Erkrankung sowohl in den Medien als auch im medizinischen Alltag immer präsenter. Menschen wurden ermutigt, über ihre eigenen Erfahrungen zu sprechen, Informationen wurden zugänglicher dargestellt, und auf politischer Ebene gab es endlich mehr Debatten dazu. Aber das reicht noch lange nicht aus. Das sollte eigentlich auch ohne aktivistische Kämpfe passieren.

Habt ihr noch andere politische Forderungen?

Feministische Medizin: Wir sind für eine Abschaffung des Zwei-Klassen-Versicherungssystems. Gesundheitsversorgung muss barrierefreier werden, insbesondere auch für diejenigen, die nicht versichert sind, z.B. Geflüchtete: sie müssen eine reguläre Gesundheitsversorgung erhalten, die über Notfallversorgung hinausgeht. Was man derzeit politisch auch beobachtet, ist eine vermehrte Schwerpunktsetzung auf Feminismus. Das ist erstmal gut. Die Gefahr ist aber, dass Feminismus zum leeren Schlagwort oder diffusen Konzept wird, ohne dass inhaltlich etwas passiert; oder dass am Ende nur weiße cis-Frauen davon profitieren. Wir müssen aber weiter und breiter – intersektionaler – denken.

Wie steht ihr zu den gefeierten Fortschritten wie der Abschaffung des Paragraphen 219a, also dem Abtreibungswerbeverbot?

Feministische Medizin: Bis 2022 machten sich Ärzt:innen unter Paragraph 219a strafbar, wenn sie über Ablauf und Durchführung von Schwangerschaftsabbrüchen in ihrer Praxis informierten. Dass dieser Paragraph überhaupt existiert und nur deshalb Aufwind bekommen hat, weil jemand sich als Hobby Praxen rausgesucht und verklagt hat, die Abtreibungen durchführen, ist gelinde gesagt, krass. Natürlich ist es gut, dass es ihn nicht mehr gibt. Aber es ist immer schwierig, einen einzigen Baustein als Erfolg zu feiern, wenn das System dasselbe bleibt. Konkret braucht es also: Abtreibungen endlich raus aus dem Strafgesetzbuch. Mehr gesellschaftliche Aufklärung und ein Ende des Stigmas um Abtreibungen. Unbedingt auch breite Ausbildung und Lehre dazu, eine flächendeckende Versorgungsstruktur, und natürlich volle Kostenübernahme durch die Krankenkassen. Es ist schwierig zu sagen, was ein Schlusspunkt wäre, solange sich systemisch nichts ändert. Statt Reformen brauchen wir wirklich revolutionäre Ansätze.

Mehr zu Medizin gibt es zum Beispiel hier.



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