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Wo ökologische auf soziale Nachhaltigkeit trifft: Zu Besuch bei der Berliner Tafel

Vor 30 Jahren hat Sabine Werth die Berliner Tafel gegründet, damals nach New Yorker Vorbild als Obdachlosenhilfe. Heute unterstützt die Tafel rund 180.000 armutsbetroffene Menschen in Berlin. Wöchentlich werden 1400 Stellen angefahren, Lebensmittel eingesammelt, die in den Hallen der Tafel sortiert und dann an die 400 bedürftigen Stellen wieder ausgefahren werden. Daneben betreibt die Tafel die Ausgabestellen Laib und Seele mit den Berliner Kirchen und dem rbb und das Lebensmittel-Bildungsprojekt Kimba für Kinder.

Trotz Krisen wie der Inflation bleibt die Berliner Tafel vom Staat unabhängig – und Sabine Werth optimistisch und kreativ. So entwirft die Tafel immer neue Modelle und Projekte, um Food Waste zu vermeiden und ist international vernetzt. Ein Gespräch über die Inflation, das Prinzip Tafel, schöne Momente und das Zusammenspiel aus ökologischer und sozialer Nachhaltigkeit.

Frau Werth, wie sehr ist Ihre Arbeit von der Inflation betroffen; ist die Anzahl der Spenden gesunken?

Es gab im Laufe der 30 Jahre immer wieder Situationen, in denen wir dachten: Jetzt gerade ist es sehr schlimm, es gibt viele Betroffene. Im Rückblick kann ich nur sagen, dass das auch häufig damit zu tun hatte, dass wir viel kleiner waren und bei weitem nicht so gut aufgestellt, weder von Fahrzeugen, Räumlichkeiten oder vom Personal her. Momentan ist es eine absolute Ausnahmesituation, die wir aber mit Wahnsinns-Krafteinsatz trotzdem bewältigen. Ich hätte mir vor 30 Jahren nie träumen lassen, was wir hier heute leisten, weder vom Umfang, noch vom Inhalt, noch von der politischen Ausrichtung her.

Wie stemmen Sie das dennoch?

Es war immer ganz klar, dass wir als Berliner Tafel keine staatliche Unterstützung in Anspruch nehmen, weil wir Unabhängigkeit wollen und weil wir nicht wollen, dass anderen Einrichtungen die Gelder gekürzt werden. Denn wenn wir Geld vom Staat bekämen, müsste es irgendwo eingespart werden. Also würde es im Zweifelsfall bei den Organisationen weggenommen werden, die wir mit Lebensmitteln unterstützen. Das wäre die dümmste politische Maßnahme, die wir treffen könnten. Von daher existieren wir ausschließlich durch Spenden und Mitgliedsbeiträge.

Und diese sind durch die schweren Zeiten nicht signifikant gesunken?

Die Situation ist für uns gerade wirklich erstaunlich gut. Natürlich werden wir auch nicht müde, immer wieder darauf hinzuweisen, dass wir auch nur genau so existieren können. So sind wir viel in den Medien und viele Leute hören uns und spenden. Aber ich stelle immer wieder fest, dass es unser großer Vorteil ist, dass wir nie auf Großspender aus waren, sondern immer gesagt haben: Wir wollen die Person, der es vielleicht schwerfällt, 2,75 € Mitgliedsbeitrag im Monat zu zahlen, die es aber trotzdem aus Überzeugung tut. Diese Person ist uns ebenso wichtig wie jene, denen es leicht fällt, 25.000 € zu spenden. Abhängigkeiten von Großspendern wären dadurch viel viel größer, als wenn wir viele 1000 kleine Spenderinnen und Spender haben. Unsere Buchhaltung hat natürlich wahnsinnig viel zu tun, der Arbeitsaufwand, Spendenbescheinigungen zu schreiben, ist sehr hoch.

Klingt anstrengend..

Ja. Aber es ist auch sehr schön. Es hat etwas Symbolisches. Wir sehen hier, wie viele tolle Menschen ihren Beitrag an der Stelle leisten. Dieses Bewusstsein finde ich sehr wichtig, diese Unterstützung in der Bevölkerung zu spüren. In meiner Lieblingsspende über zehn Euro stand zum Beispiel im Betreff: „Für mein gutes Zeugnis, vielen Dank!“

Wie schön. Möchten Sie noch mehr solche schönen Geschichten aus den vielen Jahren der Berliner Tafel mit uns teilen?

Ich stand zum Beispiel mal in einem Berliner Tafel-Auto an der roten Ampel auf dem Kudamm. Es regnete und plötzlich kam eine Frau auf mich zugerannt, von der ich dachte, sie sieht vielleicht obdachlos aus. Ich habe mich geärgert, weil ich bereits alles verteilt hatte. Ich öffnete das Fenster, da drückte sie mir zwei Mark in die Hand und sagte: „Tolle Arbeit, vielen Dank!“, und war weg. Und dann habe ich überlegt: Wenn mein vorurteilsbeladener Blick stimmt, und es war eine Obdachlose, wer weiß, wie lange sie gebraucht hat, um die zwei Mark zusammenzubekommen. Diese Momente sind mir mit am meisten.

Sie können sicher auf so viele spannende und schöne Geschichten blicken. Gibt es auch das Gegenteil?

Sehr negative Erfahrungen haben wir wenige gemacht. Aber erst letztens in einer Vorstandssitzung haben wir über rote Linien gesprochen und wir haben unsere rote Linie eigentlich sehr weit gefasst: Alle, die auf der Basis unserer freiheitlich demokratischen Grundordnung arbeiten, sind uns willkommen, egal in welcher Kritik sie in den Medien sind. Solange da kein Prozess gegen sie abgeschlossen ist und sie gegen irgendwas verstoßen haben, arbeiten wir mit ihnen zusammen.

Wie weit ist die Berliner Tafel noch vernetzt?

Wir sind deutschlandweit mit allen Tafeln gut vernetzt, deren Arbeit sich häufig von unserer unterscheidet. Wir stehen sogar mit anderen Tafel-ähnlichen Organisationen international in Kontakt, zum Beispiel in Taiwan. Das Prinzip ist dort dann natürlich ein ganz anderes. Dort braucht die Organisation manchmal Stunden, um wohin zu kommen. Sie laufen weite Wege zu Fuß, um in die Berge zu kommen, um da den Menschen das warme Essen und weitere Lebensmittel zu bringen, das wäre bei uns unvorstellbar, einfach, weil die Struktur hier in Berlin eine ganz andere ist. Wir haben hier ja 46 Ausgabestellen von Laib und Seele, die wir gemeinsam mit den Kirchen und dem RBB betreiben. Dort können sich Bedürftige einmal wöchentlich Lebensmittel für zu Hause holen.

Mussten Sie an der Arbeit der Berliner Tafel während der Pandemie Anpassungen vornehmen?

Natürlich. Während Corona haben von unseren damals 45 Ausgabestellen 42 dichtgemacht, weil die Ehrenamtlichen im Alter von 60 bis 80 plus Risikogruppen waren und gesagt haben, das Risiko sei ihnen zu groß, dass sie dort zum Hotspot werden. Daraufhin haben wir angefangen, Tüten zu packen. Da waren im Schnitt 8 bis 9 Kilo Lebensmittel drin, unterschiedlichste Sachen, sowohl Haltbares als auch Obst und Gemüse und Brot und Wasser, was wir eben so hatten. Wir haben Telefonleitungen eingerichtet, über die Leute sich melden konnten, die beliefert werden wollten. Mit Lastenrädern haben wir ihnen die Tüten vor die Tür gebracht. Das war auch eine tolle Initiative mit den Rebel Ridern und der FLotte Berlin, die für uns natürlich auch ökologisch großartig war.

Ökologisch großartig wäre auch das Legalisieren von Containern …

Ich bin für die Legalisierung von Containern. Gar nicht so sehr, weil ich Containern für das Nonplusultra halte. Ich finde es schlimm, dass es nötig ist: Das, worauf uns die Menschen, die Containern, aufmerksam gemacht haben, ist die Tatsache, dass in den Containern Lebensmittel sind. Und die landen in Containern von Firmen, bei denen wir sechs Tage in der Woche sind. Warum schmeißen die Firmen das weg? Ich denke: Wenn das Containern illegal ist, dann muss das Wegwerfen von Lebensmitteln auch illegal sein. Oder anders herum. Ente oder Trente.

Sind Sie trotz allem zivilgesellschaftlichen Erfolg auch manchmal wütend auf die Politik, dass so vieles auf Ihren Schultern lastet?

Nein. Es hat sich schon viel getan. Heute würde niemand mehr – so wie damals unter Kohl – sagen, dass es keine Armut im Land gibt. Im Gegenteil, sie ist das Totschlagargument schlechthin. Also ich habe immer gesagt, Hartz4, muss abgeschafft werden und wir brauchen ein neues Instrument, was aber nicht nur einen anderen Namen hat. Und jetzt haben wir ein neues Instrument, was aber nur einen anderen Namen hat. Die Schere zwischen arm und reich geht immer weiter auseinander. Viele Politiker:innen wollen aber sicher etwas ändern, schaffen es aber nicht. Ich bin froh, dass ich nicht in die Politik gegangen bin. Ich glaube, so, wie es jetzt ist, kann ich mehr verändern.

Sabine Werth, Gründerin der Tafel

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