„Es gibt einige Probleme mit herkömmlichem Saatgut“, erklärt Juanjo Soriano vom Andalusischen Saatgutnetzwerk Red Andaluza de Semillas (RAS). „Das meiste Saatgut der industriellen Landwirtschaft benötigt im Anbau Unmengen von Wasser und Chemikalien. Die entstehenden Pflanzen sind auch kaum resistent gegen Schädlinge und Krankheiten. Und das sind nur die Aspekte direkt auf dem Feld, es geht aber noch um viel mehr“. Die zahlreichen Herausforderungen der konventionellen Landwirtschaft zeigen sich also bereits in ihrem kleinsten Element: bei den Samen. Deshalb treffen wir Juanjo, der uns zeigt und erklärt, wie die Landwirtschaft mit einem Umdenken beim Saatgut nicht nur klimaresistenter werden kann, sondern auch ausbeuterischen Großkonzernen etwas entgegensetzt.
Es ist Mitte September und noch gut 30 Grad heiß, als wir Juanjo im Büro des Netzwerks, das sie gemeinsam mit den Ecologistas en Acción teilen, am Stadtrand von Sevilla treffen. Man könnte sich keinen passenderen Ort für die Arbeit des Netzwerks vorstellen als dort, zwischen kleinen Gärten, einem Stall mit Ziegen und Hühnern gelegen. Eine alte und wirklich kuschelige andalusische Hütehündin überwacht alles genau. Auch in dem Büro des Netzwerks erkennt man direkt, woran sie arbeiten. Eine Gruppe aus mehreren Freiwilligen sortiert Samen, füllt sie in Gläser oder Briefumschläge, um sie zu versenden.
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Mit Saatgut gegen den Klimawandel
Der Saatgutaustausch ist eine der Kernaufgaben des RAS. „Es sind jährlich immer unterschiedlich viele Landwirt:innen, die an dem Austausch teilnehmen“, erklärt Juanjo, der eigentlich Biologe ist. Seit der Gründung des RAS im Jahr 2003 waren es aber über tausend verschiedene Farmer:innen. Das Prinzip ist einfach: Es geht um einen Erhalt traditionellen Saatguts auf der Grundlage eines dynamischen und gemeinschaftsbasierten Systems, bei dem alle von der Arbeit aller profitieren. Denn im Gegensatz zu Saatgut aus der industriellen Landwirtschaft fördert das traditionelle lokale Strukturen. Gleichzeitig profitiert es von langjährigem Wissen der Community und kann auf Klimaveränderungen besser reagieren.
Und dass es eine Veränderung braucht, ist offensichtlich. Juanjo beginnt, von einer Obstfarmerin zu erzählen, die in ihrem Garten eigentlich optimale Voraussetzungen hatte – bis das Wasser durch einen Neubau eines Nachbarn wegblieb. Nun sucht sie nach Saatgut, das weniger Wasser benötigt. Ihr Schicksal könnte bald noch mehr Menschen in Andalusien treffen – nur aus einem anderen Grund. So berichtet reuters im August dieses Jahres zum Beispiel, dass die größte permanente Lagune im Doñana-Nationalpark das zweite Jahr in Folge komplett trocken blieb. Die Auswirkungen des Klimawandels rücken näher.
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David gegen Goliath
Um am Austausch teilzunehmen und neue Samen zu erhalten, müssen Landwirt:innen ihrerseits eigene beim Netzwerk einschicken. Diese müssen sie zuvor mindestens zwei Wachstumsperioden lang anbauen und ernten. Und das Wichtigste: Sie dürfen weder gezielt verändertes Erbgut enthalten, noch geistigem Eigentum unterliegen. Denn das ist eines der größten Probleme des derzeitigen industriellen Saatguts. Mit einem Wandel von kleinbäuerlichen Unternehmen hin zur Etablierung einer riesigen Agrarindustrie und einem Durchsetzen von Massenproduktionen in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts konnten große Unternehmen ein Monopol erlangen. Und Saatgut unterliegt – wie jedes andere Produkt auch, das hergestellt wird – Patenten. Somit können die Unilevers dieser Welt ihr Saatgut viel zu teuer an einzelne Farmer:innen verkaufen.
„Man kann sich unsere Saatgutbank vorstellen wie ein Open-Source-Programm in der Informatik“, erklärt Juanjo das Gegenmodell von RAS. „Das Saatgut kann frei vermehrt werden. Es kann getauscht und auf der eigenen Farm weiter gezüchtet werden. Sogar eigene Sorten kann man daraus züchten. Man muss dabei niemanden um Erlaubnis bitten, keine Berichte vorlegen, niemandem Geld zahlen, nichts“. Und natürlich haben die traditionellen andalusischen Arten auch auf dem Feld viele Vorteile gegenüber den hochgezüchteten Arten der großen Anbieter. „Wir haben viele Sorten in vielen unterschiedlichen Kulturen. Jetzt – Mitte September – bauen wir die Winterkulturen an.“ Diese sind auf die Wetterumstände der kälteren Jahreszeiten angepasst. Im Frühjahr wiederum verwenden Saatgut, das die heißeren Sommermonate besser abkann. Diese Flexibilität hat gekauftes internationales Saatgut nicht.
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Landwirtschaft und Saatgut: Lernen über Generationen hinweg
Damit dieses Prinzip funktioniert, braucht es eine gute Organisation und einen strukturierten Wissenstransfer. Bei dem RAS findet das auf unterschiedliche Arten statt. Zum einen arbeiten sie mit dem Agrarlehrstuhl der nahegelegenen Universität Sevilla zusammen: Dort säen Studierende das Saatgut aus und dokumentieren die Eigenschaften der Pflanze. „Sie beschreiben und charakterisieren alles, sodass die Landwirt:innen genau wissen, ob das Saatgut zu ihnen passt“. In der Tat ist die Kartei sehr detailliert: Die Pflanze, ihre Blätter und Blüten werden genau vermessen, die Frucht gewogen, ihre Farbe in wissenschaftlicher Akribie beschrieben. Die Universität hat die Ressourcen und Struktur, das RAS das Netzwerk und die Erfahrung.
Letztere kommt auch aus dem intensiven Austausch, den die Mitglieder des Netzwerks mit den älteren Landwirt:innen der Region haben: „Als wir angefangen haben, wussten wir nicht viel über bestmögliche Flächenbewirtschaftung“, erzählt Juanjo. „Die älteren Bäuer:innen haben sie uns dann beigebracht. Von ihnen haben wir das meiste über effiziente Wassernutzung gelernt und darüber, die Fläche so zu nutzen, dass sich die Pflanzen gegenseitig ergänzen“ – das Gegenteil von Monokulturen also. „Denn ein richtiger Gemüsegarten setzt sich eben aus verschiedenen Pflanzen zusammen“. Die traditionelleren und älteren Farmer:innen wissen, welche Böden sandiger sind und deshalb schneller austrocknen, welche tonhaltiger und deshalb schwerer sind und welche Pflanzen auf welchem von ihnen am besten wachsen. Kurzum: Sie haben jahrzehntelange Erfahrung mit dem andalusischen Gelände, mit seinen Vor- und Nachteilen.
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Der Blick nach vorn
Mittlerweile gibt es mit der Disziplin der Agrarökologie einen ganzen wissenschaftlichen Bereich, der sich aus diesen Erfahrungswerten herausgebildet hat: Sie ist eine nachhaltige landwirtschaftliche Praxis, die auf ökologischen Prinzipien und Wechselwirkungen zwischen Pflanzen, Tieren, Boden, Wasser und der Umwelt insgesamt beruht. Der Wissenstransfer im Netzwerk geht aber noch tiefer: Einmal jährlich organisiert das RAS eine Austauschmesse, zu der alle Landwirt:innen aus Andalusien kommen und ihr Saatgut mitbringen und untereinander tauschen können. Auch außerhalb der traditionellen landwirtschaftlichen Szene ist das Netzwerk aktiv. „Wir arbeiten an einem besseren Verhältnis von Landwirtschaft und Stadt“, erklärt Juanjo. Das ist sinnvoll, denn nichts auf der Welt existiert in einem luftleeren Raum, erst recht nicht diejenigen, die für den Rest der Gesellschaft Lebensmittel erzeugen. Dieses Prinzip, bei denen die Erzeuger:innen Abnahmegarantien der Verbraucher:innen bekommen, heißt solidarische Landwirtschaft, SoLaWi. Sie birgt Sicherheit.
Obwohl dieses Prinzip weltweit angewandt wird, erklärt Juanjo noch eine Besonderheit der Landwirtschaft in Sevilla. Das Netzwerk bringt ältere Leute mit Grund und Garten und jüngere Städter:innen zusammen, um gemeinsam Landwirtschaft zu betreiben und zusammenzuarbeiten. Denn Juanjo ist sich sicher: Die beste Art, an seine Lebensmittel zu kommen ist, sie selbst zu erzeugen.Weshalb, fragen wir Juanjo, gibt es dann überhaupt noch Farmer:innen, die traditionelles Saatgut kaufen und anbauen, wenn es anfälliger für Klimaveränderungen und teurer ist und auch mehr Einsatz von Pestiziden erfordert? Die Antwort ist einfach: „Leider haben die meisten nicht die Zeit, sich ein eigenes Saatgutsystem aufzubauen und gleichzeitig für ihren eigenen Lebensunterhalt zu sorgen“. Nicht nur deshalb ist das RAS mit anderen Netzwerken in Spanien und Europa in gutem Kontakt: Sie betreiben Lebensmittelbildung und unterstützen Erzeuger:innen und Konsumierende bei nachhaltigerer Landwirtschaft.
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