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Was der TikTok-Aufschrei über den „Euro Summer“ uns über unser koloniales Denken lehrt

Auf TikTok gehen „Euro Summer“ Videos viral: Leute berichten über ihren Urlaub in „Europa“ – und rufen damit Kritiker:innen auf den Plan. Allerdings ist ein Aspekt des ganzen zu wenig beleuchtet, der wichtig für andere Debatten ist: Wenn wir uns über „Euro Summer“ Videos empören, sollte uns das zu denken geben, wie wir über andere Teile der Erde sprechen. Aber chronologisch:

Der Euro Summer: Von Wasser, Gemüse und Kopfsteinpflaster

Es fing damit an, dass vor einigen Wochen (hauptsächlich) US-amerikanische TikToker:innen begannen, Videos über ihren „Euro Summer“ zu drehen, also über ihre Urlaubszeit in (meist West- und Süd-)europäischen Ländern. Sie filmen sich in sommerlicher Kleidung auf den heißen Straßen Roms, Barcelonas oder Mykonos‘. Und während sie erzählen, dass man sie nicht falsch verstehen solle, sie hätten eine tolle Zeit während ihres „Euro Summer“, zählen sie im gleichen Atemzug Gründe auf, weshalb er so ganz anders läuft, als sie sich es vorgestellt haben – oder als das Internet ihnen erzählt habe. So finden sie entweder kein Trinkwasser in den Innenstädten. Oder sie sagen, dass es in europäischen Restaurants nie Gemüsebeilagen zum Hauptgang gibt. Auch beliebt: Sie filmen sich dabei, wie sie schwere Koffer über Kopfsteinpflaster ziehen, oder mit Sandeln Hügel hochlaufen und sich dabei zu (vermeintlich) schlechten Infrastruktur äußern. Ihre Videos gehen viral.

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US-amerikanische Tourist:innen als Lachnummer

Dass die Videos sich so großer Beliebtheit erfreuen, ruft aber auch Kritiker:innen auf den Plan. Viele Creator:innen stitchen die genannten Videos. Eine filmt sich selbst in der gleichen Straße wie die Tourist:innen, die Wasser suchen und zeigt, dass es nur wenige Meter weiter einen Brunnen gibt. „Oh, Americans“, ist der Tenor: Sie sind die Lachnummer, ungebildet gar. Eine andere TikTokerin erklärt, dass es natürlich immer Gemüse zum Essen dazu gibt. Daraufhin gesteht die ursprüngliche Filmerin, dass sie einfach keins bestellt haben, weil sie natürlich unbedingt Pasta essen wollten. So weit, so irrelevant.

Europa ist nicht gleich Europa

Und dann gibt es aber noch die anderen Konter-Videos. Und damit nähern wir uns dem Kern dessen, um was es gehen soll. Diese anderen Videos kritisieren den Begriff „Euro Summer“ an sich. Creator:innen sagen darin Sachen wie: Schade, dass ihr kein Gemüse in Italien, Frankreich oder wo auch immer findet, aber bei uns in Schottland/Polen/Malta/Österreich – you name it – ist die Lage eine andere: Europa ist nicht gleich Europa. Europa ist ein Kontinent, kein Land. Sie versuchen herauszustellen, dass die Kultur in Irland eine andere ist als in Albanien. In Serbien anders als in Frankreich oder Lettland. Kurzum: Die Creator:innen stören sich an einer verallgemeinernden Darstellung, die sie ganz und gar nicht abbildet, mit der sie sich nicht identifizieren können: Die US-Tourist:innen seien ignorant, auf allen unterschiedlichen Ebenen.

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Der Aspekt, der nicht nur beim Euro Summer zu kurz kommt

Niemand mag eine Verallgemeinerung oder Stereotypisierung, wenn er:sie selbst betroffen ist. Und dennoch nehmen wir Stereotypisierungen und Verallgemeinerungen unsererseits nur zu gern vor, wenn wir eben nicht betroffen sind. Was die Euro Summer Creator:innen mit dem Begriff Europa machen, macht der gesamte Westen seit jeher mit „Afrika“. Wir sprechen von „Afrika“, als wäre dieser Kontinent ein homogener Ort. Als wäre der Kontinent Afrika nicht drei mal so groß wie Europa. In Europa gibt es 225 indigene Sprachen – rund drei Prozent aller Sprachen weltweit. Auf dem afrikanischen Kontinent sind es rund 2000 – also knapp zehn mal so viele.

Und natürlich möchten wir die Kritik am Euro Summer und der Vereinheitlichung Europas nicht mit der westlichen Verallgemeinerung von „Afrika“ vergleichen. Denn die Machtdynamiken sind andere. Europa und der Westen sind historisch die Kolonisierenden, während der afrikanische Kontinent kolonialisiert wurde.

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The Danger of a Single Story

Aufgrund der Machtdynamiken folgt auf eine Vereinheitlichung „Afrikas“ zeitgleich eine Stereotypisierung: In westlichen Kontexten wird von „hungernden Kindern in Afrika“, von „den armen Leuten in Afrika“ und nicht zuletzt von „Afrika“ als einem „Ort“ von Krieg, Krisen, Katastrophen“ gesprochen. Die „drei K“ sind dabei mittlerweile übrigens ein feststehender Begriff, zu dem auch viel Forschung existiert. Sie sind die gängigsten Stereotype, die Erzählungen über den afrikanischen Kontinent begleiten.

It is impossible to talk about the single story without talking about power. There is a word, an Igbo word, that I think about whenever I think about the power structures of the world, and it is „nkali.“ It’s a noun that loosely translates to „to be greater than another.“ Like our economic and political worlds, stories too are defined by the principle of nkali. How they are told, who tells them, when they’re told, how many stories are told, are really dependent on power. Power is the ability not just to tell the story of another person, but to make it the definitive story of that person.

Chimamanda Ngozi Adichie Ted Talk „The Danger of a single story“

Was lehrt uns der Euro Summer also über Diskriminierung?

Adichie warnt in ihrem berühmten und so wichtigen Ted Talk also davor, welche Folgen es hat, aus einer Machtposition heraus eine verallgemeinernde und stereotypisierende Darstellung anderer zu wählen. Der Euro Summer ist weit entfernt davon, das zu reproduzieren; hier stoßen weiße privilegierte – und sicherlich ignorante – Reisende aus dem Westen auf hauptsächlich andere weiße privilegierte Menschen. Dennoch ist es interessant, dass sich viele Creator:innen an der Vereinheitlichung und die Reduzierung von „Europa“ als einen homogenen Ort stören. An sie gehen die Fragen: Wenn du dich damit unwohl fühlst, wie muss es wohl jenen gehen, die seit Jahrzehnten medial, politisch und im öffentlichen Diskurs vereinheitlicht und stereotypisiert werden? Denen ihre kulturelle Vielfalt aberkannt wird und deren Heimat stets im gleichen Atemzug wie Krisen und Konflikte genannt wird und deren bildliche Darstellung häufig eine menschenverachtende und objektifizierende ist, um einen Zweck zu verfolgen? – So, wie weinende Kinder zum Spenden Sammeln.

Vielleicht hilft uns dieser kurzlebige TikTok-Hickhack ja dabei, kurz innezuhalten und zu überlegen, wie wir selbst über andere Kontinente, Länder, Menschen sprechen.

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Fotos: alles Filmfotos von 11/2022 Sizilien (Catania, Taormina, Castelmola, Palermo), sowie digital aus Tansania (Ngorongoro Krater, 2019) und Marokko (Marrakesch, 2018) aus dem privaten Archiv.

Andere Artikel zu kolonialem Erbe und internationalen Machtgefügen gibt es zum Beispiel hier.

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