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Warum braucht es linken Boulevardjournalismus, revolte?

„Berlin wird zur Abschiebehauptstadt“, „Die Armenhass-Steuer“, „Bildungs-Blamage XXL“ – das sind nur einige der vielen neongelben Titel von Artikeln auf revolte.online. Revolte ist eine Boulevardzeitung – von links. Mit leicht zugänglichen Texten, Personalisierung und ein wenig Sensation versucht das Revolte-Team diejenigen zu erreichen, die klassischerweise bislang BILD lesen. Ein Gespräch mit einem der Gründungsmitglieder, Jan Bühlbecker, von Revolte über die Notwendigkeit von Boulevardjournalismus von der anderen politischen Seite, darüber, wer im Mediendiskurs Macht hat und wie man sie aufbrechen kann.

Lieber Jan, was ist Revolte?

Wir sind ein Onlinemagazin, was Boulevardjournalismus macht und wir versuchen, einen anderen Zugang zu finden als das, was man bisher vom Boulevardjournalismus kennt. Wir glauben, dass wir damit auch einen gesellschaftlichen Auftrag haben: Emanzipation zu ermöglichen und Leute zu befähigen, an Debatten teilzunehmen. Damit haben wir vor einem halben Jahr ungefähr angefangen. Seitdem haben wir einige Artikel geschrieben, einige Inhalte auch schon online platziert, ein paar Kooperationen mit Initiativen gehabt. Und jetzt gucken wir, dass wir das noch größer werden, noch weiterwachsen und noch mehr Leute erreichen können.

Es gibt euch jetzt ein gutes halbes Jahr, Zeit für ein erstes Fazit: Funktioniert eure Idee?

Wir sind tatsächlich so viel besser gestartet, als ich gedacht hätte: Wir haben es recht schnell geschafft, dass zumindest bereits immer mehr als 100 Leute auf unsere Artikel klicken. Manchmal waren es aber auch schon knapp 10.000. Wir haben auch viel ausprobiert, haben gemerkt, dass wir viele Leute auch erreichen, die sich dafür interessieren, dass sie auch mitarbeiten wollen. Jetzt sind wir dabei, die Strukturen dafür zu schaffen. Das heißt also, wir treffen uns einmal die Woche online in einem Discord und besprechen die Themen für die nächste Woche. Auch wenn wir das alle ehrenamtlich machen, möchten wir möglichst professionelle Strukturen etablieren.

Wie sehen die professionellen Strukturen aus?

Wir achten darauf, dass die Sachen, die wir veröffentlichen, hochwertig sind. Das beginnt damit, dass die Person, die einen Artikel schreibt, natürlich seriöse Quellen hat und diese gegenüber den Leser*innen transparent macht. Wir stellen also nicht einfach Behauptungen auf oder tarnen unsere Meinung als Behauptung, wie das andere Leute unter dem Deckmantel von Boulevard tun, sondern arbeiten faktenbasiert. Am Ende gibt es auch mindestens noch eine zweite Person, die das dann auch noch nochmal darüber liest. Mit Blick sowohl natürlich auf orthografische, stilistische Sachen, aber eben auch auf inhaltliches: Ist das gut genug belegt, was wir schreiben? Wie können wir es noch besser belegen? Haben wir den richtigen Zugang gefunden, um das Thema unseren Leser:innen verständlich zu machen? So stellen wir sicher, dass wir einerseits ansprechende Texte haben, die gut zu lesen sind. Aber eben auch nur Texte veröffentlichen, die ein hochwertiges inhaltliches Niveau haben.

Kann man – ganz im Sinne der BILD, dem Prototyp des Boulevardjournalismus – nicht viel besser skandalisieren, wenn man eben genau keinen Wert auf Fakten legt?

Das ist nicht unser Ziel und unser Anspruch. Ich glaube auch nicht, dass man über das bloße Skandalisieren mehr Reichweite bekommt. Ich glaube aber, dass die andere Seite mit BILD, in ihrer Entwicklung natürlich schon weiter ist als wir, sehr gefestigte Strukturen und viel Geld hat. Und natürlich auch die Aufmerksamkeit von Millionen Leser:innen. Wenn wir unsere Texte nicht seriös recherchieren, Inhalte nicht seriös genug belegen können, dann machen wir es den Leuten sehr leicht, da draufzuhauen und uns klein zu halten. Wenn wir aber inhaltlich so fundiert sind, dass man das nicht widerlegen kann, dann muss man sich mit uns auf einer thematischen Ebene auseinandersetzen. Dann ist es für BILD und Co. natürlich sehr viel schwieriger, uns entgegenzutreten. Das ist der eine Faktor.

Der andere Faktor ist, dass wir den Anspruch haben, mit Texten Leuten zu helfen. Und sie gleichzeitig zu befähigen, Argumentationen für schwierige komplexe Themen, die man vielleicht nur abstrakt kennt, zugänglich zu machen. Wir wollen unsere Leser:innen empowern, ihnen die Möglichkeit geben, mitzumischen, gesellschaftlich und politisch teilzuhaben. Und wenn man diese Haltung hat, dann kann man das nicht damit vereinbaren, einfach zu skandalisieren. Sondern dann will man das seriös und gut machen, weil man ja auch eine Verantwortung gegenüber den Leuten hat, für die man das macht.

Meistens gibt es für Talkshows und co. Keine Faktenchecks. Sagen also nicht sowieso alle das, was sie wollen?

Das sollte denen, die das so machen, peinlich sein. Weil wenn du wie Springer die Medienmacht und das Vermögen hast, aber dir nicht die Mühe machst, einigermaßen seriös zu transportieren und faktenbasiert – überhaupt journalistisch – zu arbeiten, dann ist das peinlich. Zusätzlich wissen wir, dass wir in ganz vielen Fragen auch einfach Forschung beziehungsweise Wissenschaft auf unserer Seite haben. Wir berichten zum Beispiel, wir müssen was gegen die Klimakrise tun: Das ist ein wissenschaftlicher Konsens.

Und wenn wir wie neulich einen Artikel darüber schreiben, dass die IG Metall in der Stahlindustrie die vier-Tage-Woche fordert, dann können wir auch auf Studien aus anderen Ländern zurückgreifen. Beispielsweise aus Großbritannien gibt es welche, die zeigen, dass das die Gesundheit der Beschäftigten schützt, gegen den Fachkräftemangel wirkt und die Vereinbarkeit von Familie und Beruf vereinfacht und somit eben effektiv ist. Und zwar für Beschäftigte und Unternehmen. Wir müssen nicht irgendwas behaupten. Wir haben die Fakten auf unserer Seite.

Wie schafft ihr den Spagat zwischen evidenzbasierten Inhalten und einer dem Boulevardjournalismus entsprechender Darstellung und Aufbereitung?

Auch Boulevardjournalismus muss man, wie jede andere Form der Berichterstattung, lernen. In unserem Fall sind das unter anderem die krassen Überschriften, das ist Übungssache. Und in den Texten selbst verlinken wir auf die Studien und so weiter, damit man sich weiterführend informieren kann, wenn man möchte. Ohne dass wir bei der Prägnanz unserer Aussagen Einbußen haben. Und ansonsten ist Boulevard einfach unser Mittel dafür, um komplexe Themen einfach darstellbar zu machen, weil Boulevard natürlich personalisiert, emotionalisiert und so greifbar macht.

Hast du ein Beispiel, wo das gut geklappt hat?

Wir hatten eine Geschichte, da ging es um die Frage: Wie geht Deutschland mit Geflüchteten aus der Ukraine um? Und dass es da eine Unterteilung gibt, ob das Ukrainer:innen sind oder ob das Menschen, die aus Drittländern kamen. In der Geschichte ging es um einen Arzt aus einem afrikanischen Land. Emanuel Keson. Er hat in der Ukraine als Chirurg gearbeitet, war Oberarzt, hat im Krankenhaus promoviert und ist dann vor dem Krieg nach Deutschland geflohen. In Deutschland durfte er erstmal nicht als Arzt arbeiten, weil seine Ausbildung nicht anerkannt wurde. Er durfte dann nur als ungelernter Pflegehelfer arbeiten. Am Ende sollte er auch abgeschoben werden.

Wenn man über deutsche Asylpolitik etwas in der Tagesschau sieht, dann bekommen wir diesen Fall nicht persönlich geschildert, sondern man bekommt kalte Fakten, Zahlen, Nummern. Und da ist Boulevard dann unser Mittel, um solche Fälle verständlich zu machen, indem wir die Geschichte von der konkreten Person erzählen: Mit Emotionen und Persönlichkeit. Die Überschrift ist dann: Medizin brennt: Deutschland schmeißt Arzt raus. Und damit machen wir die Fakten, Zahlen, Nummern aus der Tagesschau greifbar und verständlich.

Das klingt gut – und wichtig. Weshalb haben dann doch die meisten Leute, die keine BILD-Leser:innen sind, eine negative Assoziation zu Boulevardjournalismus?

Damit sind wir natürlich auch sehr stark konfrontiert. Die meisten Menschen assoziieren Boulevardjournalismus eben mit der BILD und haben dann ein negatives Bild. Ich habe auch negative Gedanken zur BILD, denke aber, man darf BILD und Boulevardjournalismus nicht gleichsetzen. Denn Boulevardjournalismus ist erstmal etwas politisch Neutrales. Etwas, womit man Sachen greifbar machen kann, personalisiert machen kann, verständlich machen kann, niedrigschwellig komplexe Themen darbieten kann. Das kann man auch ohne rechte Kampagne machen. Und natürlich ist es leicht für uns, damit zu kokettieren, die linke BILD zu sein, aber eigentlich greift das zu kurz. Denn unsere Herangehensweise ist ja wie gesagt eine andere. Es braucht eine boulevardjournalistische Zeitung in Deutschland, die im Interesse der Vielen arbeitet und nicht den Interessen von Medienkonzernen oder ihrem Boss gilt.

Wenn Boulevardjournalismus als solcher unpolitisch ist, weshalb haben dann – auch international – die meisten Boulevardblätter eine rechte Färbung? Kann man nach rechts besser Meinung machen, als nach links? 

Ich würde die Frage umdrehen: Es ist nicht das Stilmittel Boulevard, was rechts ist, sondern das ist der Verlag dahinter: Es ist der Missbrauch des Boulevards, der nach rechts führt. Rechte Einflussnehmer:innen nutzen die Verlagshäuser, um Kampagne zu machen, nicht umgekehrt. Zum anderen sind wir eben immernoch in einer Gesellschaft, die in ihrer Struktur unterschiedlich geprägt ist: es gibt eine kapitalistische Prägung, es gibt eine patriarchale Prägung, es gibt rassistische Prägungen in der Gesellschaft: Es gibt Vorurteile, Stereotype, die in den Köpfen von ganz vielen Menschen von uns drin sind, und die kann man von rechts bedienen. Das tun viele, nicht nur bei der BILD, um damit ihre politische Agenda zu verfolgen. Wir sehen an vielen Stellen, dass der so verbreitete Hass langfristig sogar die demokratische Organisation unserer Gesellschaft bedroht. Das klingt krass, aber es ist so. Und darum stellen wir uns dem faktenbasiert entgegen.

Also kann man nach unten leichter treten als nach oben?

Man kann auch gut nach oben treten und wenn es nötig ist, machen wir das auch. Aber gerade hat die Kapitalseite noch den Vorteil, dass sie das Geld haben – das ist im Kapitalismus eine riesige Waffe. Aber gleichzeitig haben wir wiederrum den Vorteil, dass wir im Prinzip Journalismus für die überwältigende Mehrheit der Menschen und damit die überwältigende Mehrheit der Leser:innen machen. Und wenn wir es schaffen, die Leute zu organisieren und die Leute zu empowern für die gesellschaftliche Debatte, dann glaube ich, dreht sich das irgendwann um. Diese Leute zu erreichen, bleibt für den Moment unsere größte Aufgabe. Und ist entscheidend, wenn wir eine starke und wehrhafte Demokratie für die Zukunft verteidigen wollen.

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