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#ReversedRead: Über Dream Count und andere Booktok-Lieblinge

Wer schreiben will, muss lesen. Deshalb: Reversed goes (Anti-)Feuilleton. Mit Kunst, Kultur und Literatur, aber ohne prätentiös. Unser Team hat sich in den letzten Wochen und Monaten mehr mit Literatur und dem Literaturbetrieb beschäftigt als in den Jahren davor und – auch auf eure Empfehlung hin – unterschiedliche (Trend-)Bücher gelesen. Drei von ihnen möchten wir kurz besprechen. Jene, die (vergleichsweise) neu erschienen sind und die im Internet und bei Booktok einen Nerv treffen: Ob die Auseinandersetzung mit der Pandemie und dem eigenen Leben bis dahin (Dream Count), dem Aufwachsen in Ostdeutschland zwischen Patriarchat und Platte (Die schönste Version) oder das Navigieren von Beziehungen und familiärer Rivalität (Intermezzo).

Dream Count

von Chimamanda Ngozi Adichie, 2025

Als eine der bekanntesten kontemporären Autor:innen des afrikanischen Kontinents hält die kluge Chimamanda Ngozi Adichie nicht nur der rassistischen US-amerikanischen Gesellschaft einen Spiegel vor – ihre Analysen gehen stets tiefer. Ihr Ted-Talk „the danger of a single story“ ist weltberühmt und wegweisend. Und umso mehr tut es weh, vieles von dem, was Adichie ausmacht, in Dream Count nicht wiederzufinden.

In Dream Count reflektieren vier Frauen im Rahmen der Covid-19-Pandemie ihr Leben – oder zumindest Teile davon. So begleiten wir Chiamaka, die mehr als wohlhabende Travel-Writerin, ihre Freundin Zikora, ihre Cousine Omelogor und ihre Haushälterin Kadiatou durch ihre Gedanken rund um Job, Beziehungen, Männer und Familie(ngründung). Wobei, eigentlich begleiten wir nur drei von ihnen – und hier fällt die Geschichte eigentlich schon ein wenig auseinander. Denn drei der Frauen in Dream Count haben eine ähnliche Biografie, die auch ähnlich erzählt wird. Und eine fällt aus dem Rahmen – genau die, die Adichie, wie sie in der Editor’s note am Ende berichtet – eigentlich schreiben wollte. Das merkt man sofort: Ihre Geschichte wird chronologisch erzählt, die anderen springen thematisch. Und landen eigentlich immer wieder bei Männern.

Obwohl viele Lesende vielleicht ähnliche Dating-Geschichten erlebt haben und darüber eine Beziehung zu den Protagonistinnen aufbauen können – manche Männer sind eigentlich verheiratet, emotional abwesend oder lassen die Frauen ganz im Stich – sind sie doch wahnsinnig einseitig gezeichnet, ja fast schon kitschig (Stichwort: Englishman). Und nehmen von weiteren Reflektionen rund um Frau, Mutter, Schwarz sein in einer rassistischen Gesellschaft weg. Und nicht zuletzt von der einen Geschichte, die durch ihre Tiefe, ihren Realismus, ihre Vollständigkeit und ihre Emotion wirklich unter die Haut geht. So binden sich die Geschichten nicht so zusammen, wie sie sollten. Schade. Kann man lesen, muss man nicht. Wer dennoch gern Adichie lesen möchte, sollte es mit Half of a yellow sun oder Americanah versuchen. (Auch wenn letzteres Buch ähnlich wie Dream Count auch schon Pacing-Issues hat).

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Die schönste Version

von Ruth-Maria Thomas, 2024

Gelesen haben wir Die schönste Version nur wegen der klugen und pointierten Analyse unserer Kolleg:innen beim Canny Magazine über mehr weibliche Erfahrungen in der Literatur. Und zwar ungeschönte, realistische und solche, zu denen die Leserinnen einen Bezug haben. Denn Protagonistin Jella wächst auf wie wohl viele Millenials. Zwischen Zigaretten, die man sich mit Freundinnen am Fenster teilt, mit der Frage, ob die (ostdeutsche) Kleinstadt das bieten kann, was man möchte und mit äußeren Erwartungen und Popkultur. Und, in Jellas Fall, mit einem gewalttätigen Partner, seinem Gaslighting und der nagenden Frage: Traue ich mich endlich, ihn zu verlassen?

Ruth-Maria Thomas schreibt persönlich, schnell und ehrlich, Jellas Jugend klug verwoben mit dem, was sie zum Zeitpunkt der Geschichte durchmacht. Dabei ist Die schönste Version mehr als eine weibliche Coming-Of-Age-Geschichte im Patriarchat. Denn während Identität, Männer, Beziehungen, Sex und Freundschaften typische präsente Themen sind, so bekommen wir auch mehr als das. Durch Jellas jugendlichen Blick sehen wir, was viele junge Menschen in einem Gebiet des Strukturwandels erleben. Nostalgie und Perspektivlosigkeit, Streits der Eltern um Stadt versus Land, Sorge vor dem, was kommt. Und das, ohne zu präsent oder moralisch zu sein, sondern eine stete Begleitung dieser Dualitäten als Teil des Aufwachsens in Ostdeutschland.

Die schönste Version liest sich gut und schnell runter, nimmt mit in die eigene Jugend und die Fragen, die in dem Alter beschäftigen und bleibt auch danach im Kopf. Ja, es ist ein wenig derb und provokant geschrieben. Aber eben aus einer unerwarteten Perspektive, die sich die Sprache erfolgreich zueigen macht. Leseempfehlung für alle, die einen ehrlichen Blick auf unsere Gesellschaft und das Millenial-Dasein suchen.

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Intermezzo

von Sally Rooney, 2024

Sally Rooney, die Königin einer ganzen Lesenden-Generation. Kaum jemand gibt Dialoge, Beziehungen und Unsicherheiten so gut wider wie Rooney, sagen ihre Fans. Dabei irritiert ihr oftmals fragmentierte Art zu schreiben auch manche Lesenden, ihre bewusste Auslassung von Anführungszeichen und das Verschwimmen von Dialog und Gedanken. Das macht sie auch in Intermezzo wieder, diesmal sogar noch stärker als zuvor: Die beiden Brüder werden nicht nur konträr charakterisiert, sondern auch ihre Sprache unterscheidet sich merklich. Interessant, aber ein wenig überzeichnet. Die sehr stumpfen, vereinfachten Gedanke des Einen passen wohl kaum zu seiner komplexen Profession des Menschenrechtsanwalts. Aber von vorn.

Intermezzo folgt den beiden Brüdern Peter und Ivan, die unterschiedlicher nicht sein könnten, in der Trauerbewältigung nach dem Tod ihres Vaters. Rooney nimmt uns aber auch mit in ihre brüderliche Beziehung, in die ihrer Familie und mit ihren Partnerinnen. Viele Lesenden haben sich sehr auf das neue Rooney-Buch gefreut, wenn sie sich mit ihrer bestechenden Art zu schreiben thematisch endlich noch mehr annimmt als nur Beziehungen zwischen großen, dominanten, erfolgreichen Männern und mittelcharismatischen Frauen. There, we said it. Und das ist auch schon Teil unserer Kritik: Wie viele schreibt auch Rooney leider das gleiche Buch immer und immer wieder.

(Beinahe) alle Bücher von Rooney beinhalten neben großen, schönen Männern kluge, aber halbwegs durchschnittliche jüngere Frauen, eine extrovertierte und häufig queere Bezugsperson, ein Literatur-Studium am Trinity-College in Dublin, überhaupt: Dublin. Einen teuren Urlaub in Südeuropa, eine Auseinandersetzung mit Kirche und Glauben und eine Herkunft aus dem ländlichen Westirland. Vieles davon trifft auch auf Intermezzo zu. Dafür ist es noch weitaus länger als die anderen Rooney-Bücher (und zieht sich auch sehr stark im ersten Drittel). Das Ende kommt dann zu schnell und ist kitschig. Die weiblichen Hauptfiguren bleiben platt und richten sich komplett nach den Männern und ihren Lebensentwürfen.

Kann man lesen, wir empfehlen aber Normal People (starke Auseinandersetzung mit Klasse) und Beautiful World, where are you (kein Publikumsliebling, aber wohl das politischste Rooney-Buch. Wenn diese Aspekte wegbrechen, obwohl sie bei Rooney stark gelobt werden, dann bleibt nicht mehr als das Gefühl eines Groschenromans mit explizitem Sex.)

#ReversedRead: Dreamcount und andere Booktok-Lieblinge

Mit #ReversedRead nehmen wir euch mit in unsere kleine anti-Feuilleton-Welt. Bisher haben wir hauptsächlich zu visuellen Ausstellungsformaten gearbeitet und den politischen Themen, denen sich die Künstler:innen widmen, zum Beispiel hier, hier oder hier.

Ihr möchtet nach Dream Count, Die schönste Version und Intermezzo noch andere Rezensionen lesen? Lasst uns wissen, welche Popkultur-Lieblinge und weniger bekannten Favoriten es auf unsere Leseliste schaffen sollten. Insbesondere über letztere freuen wir uns – für mehr diverse Stimmen im Literaturbetrieb.

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