„Das Thema Klassismus trifft einen Nerv“, sagt Yasmin – deshalb macht Yasmin seit Anfang des Jahres regelmäßig Videos dazu auf TikTok und Instagram. Yasmin spricht darüber, wie es ist, als in Armut aufgewachsene Person zur Uni zu gehen und wie westdeutsche Studierende ihre Privilegien oft nicht erkennen. Yasmin spricht über Ignoranz und Wut, über Dialog und schrumpfende Räume, obwohl es sie dringender braucht denn je.
Warum müssen wir über Klassismus sprechen?
In den Videos, die ich mache, merke ich: Die Menschen haben Austauschbedarf zu Klassismus. Über Klasse wird zwar schon viel gesprochen, sehr oft aber in einem akademischen Kontext. Das merke ich auch an den Kommentaren der Leute, die mir folgen. Es sind zwar sehr viele unterschiedliche Leute – und auch viele, die politischen Aktivismus nicht als Lebensmittelpunkt haben – aber die meisten sind von Klassismus betroffen und sehen sich in den Inhalten.
Schreiben dir das die Leute?
Mir schreiben Leute, die gerade im Studium sind, die sich in den Inhalten sehen. Sie sagen: Ich bin gerade im Bachelor oder Master, weiß aber gar nicht so recht, wie ich meine Abschlussarbeit schreiben soll, weil ich die ganze Zeit arbeiten muss. Andere sind schon länger fertig mit dem Studium, sehen sich aber trotzdem in den Inhalten wieder, weil sie die gleichen Situationen kennen – und sagen, dass die Gespräche auf der Arbeit in den Pausen aber immer noch die gleichen sind wie damals im Studium. Mir schreiben aber auch parteipolitische Personen, die sich beruflich mit dem Thema beschäftigen.
Erreichst du auch Menschen, die nicht betroffen sind, sondern die auf der „anderen Seite“ stehen?
Manche, die eher aus kleinbürgerlichen Verhältnissen in Westdeutschland kommen, fragen mich oft, was sie denn besser machen sollen. Ich weiß noch nicht, wie ich damit umgehen soll, weil ich mir im ersten Schritt bereits mehr Eigeninitiative wünschen würde und dass sie sich im Zuge dessen selbst reflektieren. Dass sie vielleicht nicht geschockt gucken sollten, wenn ihnen andere erzählen, dass sie mit Hartz IV aufgewachsen sind. Menschen bekommen Hartz IV. Das ist Teil von vieler Menschen Leben. Schock zeigt, dass sie sich noch nie damit beschäftigen mussten.
War das Studium der erste Ort, an dem dir Klassismus so stark widerfahren ist oder an dem du darauf gestoßen wurdest?
Dort ist es mir zum ersten Mal so stark aufgefallen. Im Zuge dessen habe ich überlegt, wie es für mich in anderen Situationen war, zum Beispiel am Gymnasium. Da gab es auch viele Momente, an denen es über die Zeit immer deutlicher geworden ist, dass ich einen anderen Hintergrund habe als andere. Aber es war viel mehr ein Prozess, erst in der Uni hat sich das zusammengesetzt und ich habe verstanden, was Klassenunterschiede bedeuten.
Ich studiere Kulturpädagogik. Das ist in der Regel ein Studiengang, den Leute wählen, die nicht in Armut aufgewachsen sind, weil er keine sichere Jobperspektive bietet. Meine Mutter hat mich zwar immer unterstützt bei der Entscheidung, hat aber auch ganz klar kommuniziert, dass sie sich Sorgen macht, dass ich keinen Job finden werde. Im Studium war es dann auch erstmalig so, dass ich viele Westdeutsche kennengelernt habe, das war vorher auch nicht so. Ich habe Ostdeutschland nie verlassen.
Wie kamst du darauf, Kulturpädagogik zu studieren, also einen, wie du ja auch sagst, sehr untypischen Studiengang?
Meine Mutter hat mich mindestens ein Praktikum im Jahr machen lassen. Ihr war es sehr wichtig, dass ich viel freiwillig mache und unterschiedliche Bereiche kennenlerne. Darüber bin ich auch zur Kulturarbeit gekommen. In Jugendclubs habe ich Gitarre spielen gelernt, weil es dort kostenlos war. Musikschulen waren zu teuer.
In Dessau gibt es nicht viele Kulturprojekte, aber als ich 18 war, haben sie ein neues aufgebaut. Dort habe ich ein Jahr lang mitgearbeitet, weil ich helfen wollte, Veranstaltungen und Projekte zu organisieren – die Projekte, die mir auch in meiner Schulzeit einen Platz geboten haben. Das hat mich aufgefangen. Auch dafür ist Kulturarbeit da. Dort waren Leute, die aus ähnlichen Verhältnissen gekommen sind und auch kostenlosen Gitarrenunterricht in Anspruch genommen haben. Die, die nachmittags vielleicht nicht wussten, was sie sonst tun sollen, als in den Jugendclub zu gehen, weil ihre Eltern gearbeitet haben – oder die, die vielleicht einfach nicht nach Hause wollten. Wenn es diese Infrastruktur nicht gegeben hätte, würde ich jetzt etwas ganz anderes studieren – wenn ich überhaupt studieren würde.
Und das wolltest du mit dem Studium zurückgeben?
Ja, da habe ich gemerkt, dass ich das auch machen möchte: Leuten wie mir einen Raum bieten, weil ich ohne diese Räume nicht da wäre, wo ich jetzt bin. Obwohl ich natürlich wusste, was Leute zu Kultur- und Medienstudiengängen sagen. Dass man damit kein Geld verdient. Dass es ein „Taxifahrerstudiengang“ ist – auch eine ganz schwierige Aussage. Ich wusste, dass die Jobaussichten schwierig sind. Aber wie schlecht, das habe ich erst im Studium gemerkt. Und das hat auch viel mit der politischen Situation zu tun, weil Kulturjobs gestrichen werden, weil es eine rechte Regierung gibt. Deshalb ist man unglaublich abhängig von der politischen Situation, ob man einen Job bekommt oder eben nicht. Das Projekt, in dem ich in Dessau gearbeitet habe, gibt es nicht mehr, weil sie keine Finanzierung mehr gefunden haben. Für mich ist der Fokus erstmal darum zu kämpfen, dass solche Räume bestehen bleiben.
Deine Erfahrung zeigt, dass solche Räume enorm wichtig sind. Was ermöglicht noch Teilhabe?
Das sagen zwar alle, aber ein wichtiger Ort ist die Schule, um Leute aufzufangen. Eine Person aus meinem Umfeld war unglaublich fleißig, aber hat das Abitur nicht geschafft, auch nicht über Umwege und hat schlussendlich abgebrochen. Menschen mit Migrationsgeschichte erfahren viel Rassismus in der Schule und müssen teilweise regelmäßig nach Berlin zur Ausländerbehörde fahren, Anträge für die Eltern ausfüllen – die wenigsten anderen Menschen müssen das nebenher machen. Die meisten Lehrkräfte haben kein Verständnis, keine Kapazitäten oder keine Hebel, weil das Schulsystem nicht darauf ausgerichtet ist, Leute aufzufangen.
Sehr wichtig. Siehst du noch andere Stellen, an denen gegen Klassismus angesetzt werden muss?
Es muss Angebote in anderen Sprachen geben. Meine Mutter war großartig darin, sich nachts, nach der Arbeit, bei Newslettern anzumelden, kostenlose Bildungsreisen rauszusuchen, Coupons zu finden. Weil sie viel Zeit und Arbeit reingesteckt hat, aber eben auch, weil ihre Muttersprache deutsch ist. Es muss öffentliche und barrierearme Sprechstunden geben, die man in vielen Sprachen bewerben muss. Aber am Ende ist all das Symptombekämpfung. Das dient dazu, sich anzupassen und um mitzuhalten. Dabei muss sich ja eigentlich das System von Grund auf ändern. Und das geht natürlich nicht so einfach.
Wo siehst du noch Probleme im Themenbereich Klassismus?
Mir fehlt auch ein offener Umgang mit Geld. Viele Menschen wollen nicht darüber sprechen. Diejenigen, die weniger haben, schämen sich deshalb. Die, die viel haben, möchten auch nicht darüber sprechen – sollten es aber tun, damit diese Ungleichheiten aufgedeckt werden. Im Zuge dessen müssen wir auch über kulturelles Kapital sprechen. Viele Bildungsbürger:innen sind mit Theater und klassischer Musik aufgewachsen. Sie kennen Stücke, die ich noch nie gehört habe. Ich bin mit Rap und Hiphop aufgewachsen – und wenn ich darüber spreche, dann sind die Reaktionen immer anders als bei denen, die über klassische Musik sprechen.
Hast du auch Erfahrungen damit gemacht, wenn du aus deiner Erfahrung zu Klassismus sprichst und dein Gegenüber dann versucht, den eigenen Hintergrund runterzuspielen?
Ich bin natürlich viel in der Kunsthochschule unterwegs und treffe auf dem Campus viele Leute. Viele von ihnen denken – und das stimmt sicherlich auch – dass es ganz viele Leute gibt, die noch viel mehr Geld haben als sie. Ich kritisiere eben häufig die sogenannte Mittelklasse, weil sie für mich schon sehr reich und sehr weit weg von mir ist, nämlich in Dimensionen, die ich mir gar nicht mehr richtig vorstellen kann. In Kontakt mit noch reicheren Leuten empfinden sie sich dann aber gar nicht mehr als so vermögend. Sie vergleichen sich eben lieber nach oben als nach unten und verstehen dadurch gar nicht, was für eine Machtposition sie tatsächlich haben.
In solchen Gesprächen wird dann häufig gesagt, dass sie gar nicht so viel Geld haben – und ich erfahre dann erst später, dass sie schon geerbt haben. Ich bekomme häufig die Kritik, dass ich erben zu sehr kritisieren würde, da erben immer mit einem sehr traurigen Vorfall zusammenhängt. Natürlich stimmt das. Aber das ist ja nicht das, worum es geht.
Sondern es geht in dem Gespräch ums Geld.
Ja. Zum Verständnis: Ich kann mir gar nicht vorstellen, was es heißt, 40.000 oder 80.000 Euro auf dem Konto zu haben, das ist für mich das gleiche wie 10.000 Euro. Im Laufe meines Studiums habe ich dann gemerkt, dass das nicht nur zwei, drei Leute sind, sondern eben die meisten, die peinlich berührt reagieren, weil ich eben einfach offen über Geld und Klasse spreche. Es ist nicht cool, arm zu sein. Viele Leute, die ich aus der Uni kenne, die in Second Hand Stores kaufen oder ihre Zeit auf Ebay Kleinanzeigen verbringen, machen das, weil sie es cool finden. Ich bin mit Second Hand Kleidung aufgewachsen – die Läden werden aber immer teurer. Für die, die das ein Lifestyle ist, den sie sich selbst aussuchen können, ist das dann kein Problem. Für die, die das eine Lebensrealität ist, aus der sie unbedingt rauswollen, aber schon.
Und du gehst mit den Menschen darüber aber ins Gespräch.
Ja. Dabei werde ich auch mal wütend und die Gespräche sind nicht immer konstruktiv. Oder zumindest waren es die ersten, die ich hatte, nicht immer. Ich werde zwar in den meisten Situationen als weiß gelesen und bin nicht wirklich von Rassismus betroffen, aber ich habe auch eine arabische Migrationsgeschichte. Die Gespräche über Rassismus sind denen über Klassismus sehr ähnlich. Es tut den Leuten weh, auf ihre Privilegien angesprochen zu werden.
Warum ist das so?
Weil sie nicht so sein wollen. Niemand will zu den Unterdrückern gehören, es ist bequemer, zu den Unterdrückten zu gehören. Vielleicht ist das auch Teil einer linken Identität. Ohne dass sie sich vorstellen können, wie es ist, wirklich die ganze Zeit von Marginalisierungen wie Klassismus betroffen zu sein. Vielleicht gibt es gerade in linken Kontexten oft auch Probleme in den Gesprächen, weil die Leute sich als aufgeklärt empfinden. Natürlich sind sie gegen Armut, gegen Kapitalismus und Rassismus und die Systeme dahinter. Aber was das dann insbesondere für sie persönlich heißt, verstehen sie nicht zwingend.
Da gab es Gespräche, in denen ich auch wirklich wütend war und lauter geworden bin. Das ist sicherlich nicht die optimale gewaltfreie Kommunikation. Aber nur, wenn wir es schaffen, bei uns selbst anzusetzen, verändert sich etwas. Und gleichzeitig muss sich natürlich auch politisch alles ändern, das gesamte System. Dazu gehören auch die harte-Arbeit Narrative von der CDU und der FDP. Oft ist es einfach Glück, wenn von zwei Personen aus ähnlichen Verhältnissen eine es schafft, diese zu verlassen.
Und für diejenigen, die weniger Glück hatten, gibt es dann Stipendien, Förderprogramme und co, die versuchen, Lücken zu schließen. Welche politischen Maßnahmen bräuchte es aber, um Ungleichheiten zu verringern und Klassismus abzubauen?
Initiativen, die dafür kämpfen, dass Menschen die gleichen Möglichkeiten wie andere bekommen, sind total wichtig. Von ihnen brauchen wir so viele wie möglich. Was wir aber eben auch brauchen, ist ein anderes politisches System. Denn viele und gute Initiativen werden niemals die massive Ungleichheit ausgleichen können, die es gibt. Denn allein schon Zugänge zu Hilfsprogrammen sind limitiert. Für den Moment brauchen wir erstmal eine linkere Regierung, Umverteilung, mehr Geld für ärmere Menschen.
Und der Glaubenssatz muss weg, dass ärmere Menschen selbst schuld an ihrer Lage sind. Mir schreiben sehr häufig Leute, ich solle einfach arbeiten gehen oder einfach mehr arbeiten. Ich arbeite durchgängig seit ich 14 bin. Meine Mutter hat jede Woche 40 bis 60 Stunden Lohnarbeit geleistet, am Wochenende Fortbildungen gemacht und war die ganze Nacht wach, um für uns Praktika und co zu recherchieren. Sie hat sich außerdem um meinen Bruder und mich gekümmert, uns zu Vereinen und Aktivitäten gefahren. Ich weiß nicht, wann oder wie viel sie überhaupt geschlafen hat. Ich weiß nicht, wie sie das alles geschafft hat.
Und gerade sehen wir das Gegenteil davon, Vorurteile abzubauen. Die politische Lage ist angespannt. Was ist deine Einschätzung zu den Bundestagswahlen aber auch zu den Landtagswahlen letzten Herbst?
Es sieht sehr schlecht aus. Für den Sommer organisiere ich mit einer Freundin eine Ausstellung zum Aufwachsen in Ostdeutschland, aber aus marginalisierten Perspektiven wie migrantischen oder queeren. Obwohl wir beide seit Jahren solche Veranstaltungen organisieren, haben wir in der Förderprogrammsuche gemerkt: So schlecht wie jetzt sah es noch nie aus. Das ist die erste Hürde – ohne Geld können wir keine Raummiete zahlen. Gleichzeitig habe ich aber auch gemerkt: Die Vernetzung zwischen einzelnen Projekten ist derzeit sehr groß. Ich kann nicht wirklich einschätzen, ob diese Solidarität zugenommen hat, aber es fühlt sich so an. Wenn eine Initiative Geld braucht, teilen andere Spendenaufrufe. Die Community ist sehr stark im Kulturbereich und insbesondere in der politischen Kulturarbeit.
Was kann dieser Community-Sinn noch bewirken?
Wir müssen mit Menschen reden und uns gegenseitig dabei unterstützten. Dass das funktioniert, sieht man ja zum Beispiel an dem sehr erfolgreichen Haustürwahlkampf der Linken. Aber natürlich kann man allein nicht mit allen Leuten sprechen. Das sehen viele von uns ja bereits innerhalb der Familie, wie viel Zeit und Energie politische Gespräche dort kosten. Es sind die Superreichen, die das Problem sind und nicht etwa diejenigen, die hier wahrscheinlich nicht mal eine Arbeitserlaubnis bekommen – das ist an sich einfach, aber die Dialoge oft verhärtet. Aber der Zuwachs an Menschen, die sich engagieren und dass viele linkere Initiativen gerade Unterstützung bekommen, macht Hoffnung. Communities wachsen. Es ist schön zu sehen, dass viele Menschen merken, dass wir uns vernetzen müssen, weil es eben nur zusammen geht. Das ist das Einzige, was gerade funktioniert. Und: nicht den Mund halten.

Mehr zum Thema Armut gibt es zum Beispiel hier.
„Es sind die Superreichen, die das Problem sind (…)“
Dazu hier mal ein Brecht/Weill-Song 😉
http://www.youtube.com/watch?v=6kh5CJ90KAU
… auf das der Gedanke sich vermehre!