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Streetphotography: TikTok und die Bildethik

Streetphotography: Das sind doch diese stark kontrastierten schwarz-weiß-Bilder mit Männern, die ihren Hut tief ins Gesicht ziehen und über eine moody dunkle Straße hasten. Ja, auch. Streetphotography heißt aber auch: Leute in Cafés durch Scheiben fotografiert, junge Frauen im Sommer vor Springbrunnen und müde Arbeitnehmer:innen in der U-Bahn. Straßenfotografie gilt als „candid“, also ehrlich, als authentisch, echt. Niemand posiert für die Kamera, sondern die eingefangenen Momente sind wirklich so passiert. Und Streetphotography ist insofern barrierearm, als dass es leicht ist, mit ihr einzusteigen. Eine Handykamera reicht schon, aber auch Spiegelreflex- oder analoge Kameras werden gern genutzt, um das Alltagsgeschehen auf Bild festzuhalten. Während das oft an sich datenschutztechnisch schon schwierig ist – welche flüchtigen Passant:innen stimmen der Aufnahme überhaupt zu? – sehen wir seit einiger Zeit eine neue Dimension der Streetphotography: Videos und TikTok.

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Streetphotography goes Video

Seit neustem ist Streetphotography aber mehr als Fotograf:innen, die finden, sich im öffentlichen Raum am ehesten kreativ austoben zu können. Mit dem unfassbaren Erfolg von TikTok der letzten zwei bis drei Jahre bekommt dasFotografieren auf der Straße neue Dimensionen: Bewegtbild und Ton. Bereits mit YouTube-Pranks und Straßeninterviews Mitte der 10er-Jahre haben wir gesehen, wie sehr es Rezipierende genießen, etwas zu sehen, von dem sie denken oder wissen: Es ist echt. Teilweise haben diese Videos Millionen Aufrufe.

Und jetzt, mit TikTok, kann das jede:r: Millionen Views mit Content im öffentlichen Raum erreichen. Denn mit dem berühmt-berüchtigten TikTok-Algorithmus ist die Follower:innenanzahl beinahe egal, es zählt nur, wie catchy das aktuelle Video ist. Und um bei diesem höher-weiter-schneller-Tempo mitzuhalten, braucht es entweder besonders viel Kreativität – oder kontroverse Inhalte.

TikTok-Street-Trends

In unserer Bubble gibt es derzeit vier verschiedene virale Trends, die „echten“ Streetcontent zeigen:

  1. What people wore in cityname today. Menschen werden von weiter entfernt gefilmt, während sie über die Straße gehen, die filmende Person möchte den Streetstyle in einer bestimmten Stadt zeigen. Die Personen merken nicht, dass sie gefilmt werden.
  2. Good deeds / Random acts of kindness. Während es schon schwierig genug ist, Leute ohne ihr Wissen zu filmen, sind die Gute-Taten-Videos bereits wirklich problematisch. Ein:e Geber:in inszeniert sich als altruistisch, indem er:sie viel Geld oder besondere Geschenke an Passant:innen verschenkt – und sie dabei filmt. Im Sommer erzählte eine ältere Frau, ein solches virales Video habe sie „entmenschlicht„.
  3. Straßeninterviews. Sie sind besonders präsent, es gibt sie in unterschiedlichen Ausprägungen. Ein:e Moderator:in fragt mit Mikrofon nach kontroversen Themen: Welche ist deine Lieblingsstellung? Bist du pro choice oder pro life? Oder auch einfach: Was ist die Hauptstadt von Europa? Während die kontroversen Fragen – und ihre Antworten – darauf abzielen, eine Diskussion in den Kommentaren loszubrechen, sollen die letzten besonders eins: Die Interviewten vorführen. In letzter Zeit häufen sich Antwortvideos der Interviewten, die erzählen, dass ihre Antworten zusammengeschnitten wurden.
  4. Armut und Leid. Hier verlinken wir mit Absicht nichts, aber unter „Bahnhofsviertel Frankfurt“ lassen sich zum Beispiel tausende Videos finden, die das Straßengeschehen abbilden – unzensiert.

Was passiert mit dem öffentlichen Raum?

Wir sind keine mies gelaunten Millenials, die uns den Erfolg von kuratierten Insta-Feeds zurückwünschen. Gen Z ist bekannt für den Willen nach mehr Authentizität und ungestellten Videos, viele TikToker:innen filmen sich ungeschminkt und von schräg unten. In den Influencer-High-Times von YouTube und Instagram wäre das nicht unbedingt möglich gewesen. Die Frage bleibt aber, wie es mit öffentlichem Raum, Datenschutz und dem Recht am eigenen Bild weitergeht, wenn jede:r zu jeder Zeit Aufnahmen in Echtzeit teilen kann.

Was wir zunächst aber tun können, ist – wie so oft – Inhalte, die wir im Internet konsumieren, zu hinterfragen: Sind random acts of kindness wirklich random, wenn sie gezielt gefilmt werden? Glaubt die Person wirklich, dass Frankreich die Hauptstadt von Europa ist, oder wurden vielleicht Frage und Antwort zusammengeschnitten? Und wenn wir dann an der Echtheit zweifeln: Vielleicht schenken wir ja kein Like, Share oder Kommentar.

Fast alle Bilder des Beitrags wurden mit einer 35-mm analogen Messsucherkamera und unterschiedlichen Filmen geschossen.

Mehr zur Ethik in der Fotografie gibt`s zum Beispiel auch hier.

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