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Gegen die Machtlosigkeit: 5 Wochen auf der Humanity 1

Ein Schlauchboot mit Crew-Mitgliedern der Humanity 1 auf dem Weg zur Humanity

Zivile Seenotretter*innen sind seit nunmehr zehn Jahren dort aktiv, wo die EU versagt und Verantwortlichkeiten an Bürgerkriegsländer wie Libyen auslagert. Trotz ihres unermüdlichen Einsatzes wird die Arbeit der NGOs im zentralen Mittelmeer immer häufiger durch Schikanen und gezielte Maßnahmen seitens der italienischen Behörden erschwert und kriminalisiert. Im Interview spricht Leti, freiwillige Helferin und Krankenschwester an Bord der Humanity 1, mit Fotojournalistin Judith Büthe über die wachsenden Herausforderungen bei der Rettung von Menschen im Mittelmeer.

Leti beschreibt, wie politische Entscheidungen und bürokratische Hürden die humanitäre Arbeit erschweren und wie die medizinische Arbeit auf einem Rettungsschiff aussieht. Mit über zehn Jahren Erfahrung als Krankenschwester, viele davon im humanitären Bereich, arbeitete die gebürtige Italienerin zuvor in Ländern wie Sudan und Sierra Leone. Seit 2023 engagiert sie sich für die zivile Seenotrettung und war seitdem an fünf Rettungseinsätzen im Mittelmeer beteiligt. Im Gespräch berichtet sie eindrücklich von ihrem letzten Einsatz im August 2024 mit SOS Humanity.

Dies ist der erste Teil von Judiths Gespräch mit Leti. Der zweite Teil ist hier abrufbar.

Leti bei ihrer arbeit auf der Humanity 1

Wann hat eure Zeit an Bord des Rettungsschiffs Humanity 1 begonnen, und wie bereitet ihr euch auf den Einsatz vor?

Die ersten Tage an Bord der Humanity 1 haben wir noch im Hafen verbracht. Wir haben verschiedene Sicherheitstrainings absolviert und uns auf medizinische Notfälle vorbereitet. Im Anschluss ging es dann los in Richtung Einsatzgebiet vor der libyschen und tunesischen Küste. Wir hatten insgesamt zwei Patrouillen in der SAR-Zone (Such- und Rettungszone). Die erste verlief verhältnismäßig ruhig: Wir konnten etwa 60 Menschen aus einem einzigen Boot retten. Ihr Zustand war, verglichen mit anderen Einsätzen und SAR-Erfahrungen, gut. Wenn ich ‚gut‘ sage, dann meine ich nicht, dass es den Geretteten gut ging. Im Vergleich zu anderen Rettungen gab es aber zumindest keine medizinischen Notfälle.

Es gab einige Patient*innen mit chronischen Erkrankungen und Infektionen. Viele der Geretteten berichteten uns von Folter und zeigten uns ihre Narben. Außerdem gab es Menschen mit Verbrennungen und schweren Atemwegsproblemen, die auf die Mischung aus Treibstoff und Salzwasser zurückzuführen waren, der sie tagelang ausgesetzt waren. Am vorletzten Tag, als wir uns auf dem Weg nach Civitavecchia, einer Hafenstadt nordöstlich von Rom, befanden, hatten wir einen Patienten mit akuten Symptomen. Sie deuteten auf einen Herzinfarkt hin. Wir mussten in Absprache mit den italienischen Behörden eine medizinische Evakuierung organisieren, da unsere Ressourcen und Möglichkeiten an Bord begrenzt waren.

Gab es noch weitere Rettungseinsätze, oder blieb es bei diesem einen Einsatz?

Das zweite Mal, dass wir herausgefahren sind, ist ganz anders verlaufen. In den ersten Tagen im Einsatzgebiet sind wir Suchmuster gefahren. Das sind in der SAR-Arbeit feste Abläufe beziehungsweise Muster, die man fährt. Sie helfen uns, gezielt nach Menschen in Seenot zu suchen. Dabei geht es darum, möglichst viel Fläche systematisch abzudecken und die Boote schnellstmöglich zu finden. Wir sahen uns einige Male mit der sogenannten libyschen Küstenwache (‚scLCG‘) konfrontiert. Es gab unter anderem einen Notruf, den wir erhalten haben und zu dem wir unterwegs waren. Hier kam uns die scLCG mit ihren deutlich schnelleren Schiffen zuvor und hat unsere geplante Rettung verhindert. Wir wurden von ihnen per Funk dazu angehalten, der Situation fernzubleiben.

Das Gefühl der Machtlosigkeit war überwältigend, weil wir wussten, was das für die Menschen am Ende bedeutet. Stunden später haben wir das Boot der sogenannten libyschen Küstenwache wieder gesehen – mit Menschen, die sie vorne auf dem Bug zusammengepfercht hatten. Wir wussten, dass sie bald wieder in Libyen sein würden. Das war unerträglich mit anzusehen und dabei zu wissen, dass sie in die Hölle zurückgebracht werden, aus der sie zuvor geflohen waren. Während des zweiten Einsatzes haben wir immer wieder leere Boote gesichtet. Das waren ebenfalls Situationen, die uns mit einem beklemmenden Gefühl zurückgelassen haben.

Gerettete Menschen an Bord der Humanity 1.

Was ist mit den Menschen geschehen? Sind sie gerettet worden? Abgefangen? Oder sind sie ertrunken?

Diese Fragen bleiben unbeantwortet.

Kannst du von weiteren Begegnungen oder Ereignissen berichten?


Eines Morgens näherten sich uns bewaffnete Jugendliche in einem Boot. Sie kamen so nah, dass ich ihre Gesichter durch ein Bullauge erkennen konnte. Da waren mehr Gewehre im Boot als ich Personen zählen konnte. Ihre Anwesenheit, ihre Art sich dem Schiff zu nähern, wirkte auf mich einschüchternd und bedrohlich. Ein Crewmitglied, unser Cultural Mediator, hat dann Kontakt mit ihnen aufgenommen. Nach einem kurzen Gespräch sind sie dann abgezogen. Wir wissen bis heute nicht, wer sie waren und was sie von uns wollten. Nach einigen Tagen konnten wir uns wieder auf das konzentrieren, wofür wir eigentlich vor Ort waren – die Rettung von Menschen.

An einem Tag haben wir vier Rettungseinsätze durchgeführt. Das erste Boot war einigermaßen stabil, ein vergleichsweise kleines Boot. Wenige Stunden später haben wir Menschen aus drei weiteren Booten gerettet. Sie hatten bereits Luft verloren und waren voll Wasser gelaufen. Diese Situation war herausfordernd für die Crew. Die Kommunikation zwischen den RHIBs und der Brücke war intensiv, und das medizinische Team hat sich auf das Schlimmste vorbereitet. Glücklicherweise sind alle Rettungen reibungslos verlaufen, es gab keine Toten oder Vermissten, obwohl einige Menschen im Wasser waren. Die Geretteten waren erschöpft, viele litten unter Verbrennungen und anderen Verletzungen.

In dieser Phase gab es dann zusätzlich Patient*innen, die sich in akut psychischen Krisen befunden haben. Das hat ebenfalls entsprechendes Personal und Zeit in Anspruch genommen. Zeitgleich waren wir in Alarmbereitschaft, da wir den Funkverkehr zwischen dem SAR-Team auf den RHIBs und der Brücke verfolgt haben. Wir konnten hören, dass sich uns Boote näherten, von denen wir nicht wussten, ob es dabei um die ‚scLCG‘ handelte. Parallel dazu wurden immer mehr Menschen aus dem Wasser und den Schlauchbooten an Bord unseres Schiffes gebracht. Für uns als medizinisches Team war die Lage kritisch und die Situation herausfordernd, da sich der schwerkranke Patient, den ich zu Beginn erwähnt habe, unter den Geretteten befand. Also haben wir sofort alles für eine Evakuierung veranlasst und die Behörden in Italien kontaktiert. Es hat dann immer noch fünf bis sechs Stunden gedauert, bis sie letztlich kamen und den Patienten evakuiert haben.

Gerettete Menschen werden an Bord der Humanity 1 gebracht
Gerettete Menschen werden an Bord der Humanity 1 gebracht.
Dort werden sie von Leti untersucht.

Gab es keine Option, den Patienten an Bord der Humanity 1 zu behalten und mit den anderen Geretteten nach Italien zu bringen?

Das war für uns als medizinisches Team ausgeschlossen. Unsere Kapazitäten waren durch die Betreuung dieses Patienten vollständig erschöpft. Außerdem wurde uns Genua als sicherer Hafen zugewiesen, im Norden Italiens, etwa fünf Tage entfernt. Wir hatten mehrere hundert Menschen an Bord und hätten uns um keine*n davon mehr kümmern können. Also mussten wir das MRCC (Maritime Rescue Coordination Centre) und die Behörden an Land kontaktieren, um eine medizinische Evakuierung (Medivac) zu organisieren – es musste entweder ein Hubschrauber oder ein Boot her, das den Patienten schnell abholt. In einer detaillierten E-Mail musste der Gesundheitszustand des Patienten zusammengefasst werden. Den Behörden musste mitgeteilt werden, dass er schnellstmöglich an Land gebracht werden muss und, dass zwei Familienangehörige, die mit ihm gemeinsam geflohen sind, mit evakuiert werden müssen. Dann hat für uns das Warten begonnen.

Ich war selbst nicht auf der Brücke, weiß aber durch den Funkverkehr, den wir mitverfolgen konnten, dass es schwierig war zu klären, welches Land für die Aufnahme zuständig war – ob Malta oder Italien. Irgendwann nach Stunden kamen die Italiener, doch in der Zwischenzeit hatte sich der Zustand unseres Patienten verschlechtert. Das medizinische Team der italienischen Küstenwache kam zu uns an Bord, hatten aber die angeforderten Sauerstoffflaschen nicht bei sich, besser gesagt nicht genug davon. Wir mussten ihnen eine Flasche aus unserem Bestand geben, damit sie den Patienten überhaupt bis an Land am Leben halten konnten. Dabei hatten wir selbst nicht mehr genug.

Ich frage mich bis heute, wie man es schafft, Sauerstoff zu vergessen, wenn das der Hauptgrund für die Evakuierung des Patienten war. Und dann wartete schon das nächste Problem auf uns: Angeblich wusste niemand davon, dass die Familie des Patienten mit evakuiert werden sollte, was faktisch nicht sein konnte, da es in den E-Mails klar kommuniziert wurde und hierfür eine Bestätigung vorgelegen hat …

Haben er und seine Familienmitglieder das Schiff gemeinsam verlassen?

Ja, die Drei wurden gemeinsam an Land gebracht. Es handelte sich um seinen Neffen und einen Cousin, die mit ihm an Bord der Humanity 1 waren. Der Neffe war zudem minderjährig. Für uns stellte sich die Frage also nicht, ob sie mitgenommen werden oder nicht! Außerdem war es eine Information, die wir vorher klar kommuniziert hatten. Es gab eine heftige Diskussion zwischen dem Kapitän der „Charlie Papa“ (ugs. für die Schiffe der Guardia Costiera, der italienische Küstenwache), unserem Kapitän und unserem Care-Koordinator an Bord. Mit etwas Geduld und Widerstand haben wir es dann aber geschafft. Weit nach Mitternacht endete dann ein langer Tag für uns.

„Ich frage mich bis heute, wie man es schafft, Sauerstoff zu vergessen, wenn das der Hauptgrund für die Evakuierung des Patienten war“.

Ist die Humanity 1 nach der nächtlichen Evakuierung nach Genua gefahren, und konntet ihr die anderen Menschen letztlich an Land bringen?

Ja, genau, das war der Fall. Aber das war bislang nur der erste Tag, also die Rettungen als solche. Am nächsten Morgen erhielt unser Care-Koordinator gegen 7:30 Uhr die Anweisung der Behörden an Land, eine selektive Ausschiffung vorzunehmen. Am Ende des ersten Tages hatten wir 273 Menschen an Bord, was unsere Kapazität von offiziell 202 Personen bei weitem überschritt. Die italienische Küstenwache informierte uns, dass wir so viele Menschen von Bord bringen müssen, wie unsere tatsächliche Kapazität offiziell zulässt. Die Anweisung kam um 07:30 Uhr herein, und bis 10:00 Uhr sollte die italienische Küstenwache bei uns sein – wir hatten also wenig Zeit. Wir wurden aufgefordert, die am stärksten gefährdeten und die medizinischen Notfälle zu bestimmen.

Wie sollten wir in so kurzer Zeit einen Überblick über die Personenanzahl verschaffen? Wir konnten einige Personen bestimmen, weil wir sie am Vortag bereits behandelt haben. Das waren sehr kritische Fälle, die wir stabilisiert haben: Menschen mit gebrochenen Beinen, Verätzungen der Lunge und schweren Verbrennungen durch ein Treibstoff-Salzwasser-Gemisch, und, ja, die auch von Folter gezeichnet waren. Aber über familiäre Verbindungen waren wir uns zu diesem Zeitpunkt noch nicht im Klaren.

Wie habt ihr es als Team der Humanity 1 geschafft, in so kurzer Zeit Entscheidungen mit so weitreichenden Folgen für die Geretteten zu treffen?

Es war extrem intensiv, anstrengend und frustrierend. Keine*r von uns wollte Familien auseinanderreißen und wir wussten auch nicht, ob es weitere medizinische Notfälle gab, die wir bislang nicht registriert hatten. Wir haben also 70 Personen bestimmt und ich bin ich mir bis heute nicht sicher, ob wir die richtigen Entscheidungen getroffen haben – wie sollen wir das wissen? Wir haben als Team entschieden, dass wir die schwerkranken Fälle zusammen mit nahen Familienangehörigen sowie Frauen und Kindern, die besonders schutzbedürftig waren, priorisieren. Aber natürlich bedeutet „nahe Familie“ nur Ehemann, Ehefrau, Bruder und Schwester … Du siehst und sprichst mit Leuten, die um jeden Preis mit an Land gebracht werden wollten, anderen war es nur wichtig zusammenzubleiben – egal ob an Bord der Humanity 1 oder der italienischen Küstenwache. Andere wollten nicht weg von uns, weil sie schlichtweg Angst hatten vor dem was passiert, nachdem sie von irgendeinem Boot abgeholt wurden.

Ich stelle mir das hart vor, nach einer Rettung aus Seenot und den Erlebnissen auf der Flucht, auf ein weiteres unbekanntes Boot zu steigen. Warum sollten die Geretteten der Küstenwache vertrauen, wenn sie andere Erfahrungen gemacht haben? Wir konnten die Anspannung und Angst der Menschen fühlen und sehen. Letztlich wurden 70 Menschen evakuiert und nach Lampedusa gebracht. Ab dieser Zeit hatten wir also 200 Menschen an Bord, hauptsächlich Männer und junge Teenager, mit denen wir 3,5 Tage an Bord in Richtung Genua unterwegs waren.

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Wie hat sich die Entscheidung der italienischen Regierung, einen 1.100 Kilometer entfernten Hafen zuzuweisen, auf die Situation an Bord der Humanity 1 und die Umstände für die Geretteten ausgewirkt?

Es war furchtbar und hat mich wütend gemacht. Wir haben die Nachricht bereits erhalten, da hatten wir gerade einmal 15 Menschen an Bord, die wir zuvor gerettet haben. Und wir waren super weit entfernt und bis Genua waren es ganze fünf Tage Fahrt. Als wir diese Information erhielten, wussten wir, dass dies das Ende dieser Rotation war – es würde keine weiteren Rettungseinsätze für unsere Crew geben. Fünf Tage Fahrt bis Genua, das Prozedere, bis die Geretteten festen Boden unter den Füßen haben, dann weitere fünf Tage, bis wir wieder in der SAR-Zone eintreffen. Uns blieb nicht genügend Zeit für eine weitere Fahrt ins Einsatzgebiet, weil wir eben nie wissen, welcher Hafen uns als nächster zugewiesen wird und wie lange wir unterwegs sein werden.

Und für die Menschen an Bord war es sowieso eine schlechte Nachricht. Sie wurden kurz zuvor gerettet, hatten bereits Tage auf Schlauchbooten zusammengepfercht auf dem offenen Meer verbracht, und erfahren dann, dass sie weitere fünf Tage auf dem Schiff ausharren müssen. Für beide Seiten fühlte es sich falsch an, das Festland immer wieder zu sehen und zugleich zu wissen, dass wir einen Hafen weit im Norden zugewiesen bekommen, um uns aus der Rettungszone fernzuhalten. NGOs führen Rettungsaktionen durch und werden dann unnötigerweise nach Livorno, Genua oder Ancona geschickt. Es macht mich wütend im Hafen angekommen zu erfahren, dass die Menschen dann aus dem Norden wieder neun Stunden zurück Richtung Süden gebracht werden.

Leti im Portrait

Judiths Artikel zu den vergessenen Geflüchtetencamps von Calais gibt es hier.

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