Zwischen 2014 und 2024 sind mindestens 30.000 Menschen im zentralen Mittelmeer ertrunken, und die Dunkelziffer dürfte weit höher sein. Während staatliche Strukturen versagen, kämpfen NGOs seit einem Jahrzehnt darum, Menschen vor dem Sterben im Meer zu bewahren. Im zweiten Teil des Gesprächs mit Leti, Krankenschwester auf der Humanity 1, spricht Fotojournalistin Judith Büthe mit ihr über die politische Kriminalisierung von Seenotrettung, den Diskurs über Flucht und Migration und die mediale Berichterstattung.
Im ersten Teil hat Leti über den aktuellen Einsatz von SOS Humanity und ihre Zeit an Bord berichtet.
Was sind deine Motivationen für dein Engagement in der NGO-Arbeit?
Meine Motivation ist vielschichtig. Mit der Arbeit auf dem Schiff und der zivilen Seenotrettung fühle ich mich verbunden. Vielleicht liegt das daran, dass ich Italienerin bin und jeden Tag sehe, was direkt vor unseren Haustüren passiert. Oder vielleicht daran, dass ich selbst als Migrantin in Großbritannien gelebt habe. Ich verstehe, warum Menschen sich dazu entschließen, ein neues Leben in einem anderen Land zu suchen, wenn es die Chance auf eine Verbesserung der eigenen Lebensumstände bietet. Dabei sind meine Gründe nicht im Ansatz vergleichbar mit denen der Menschen, die wir retten. Sie riskieren ihr Leben bei dem Versuch das Mittelmeer zu überqueren, auf der Suche nach einer lebenswerteren Zukunft.
Ich hatte das Privileg, mit meinem EU-Pass in der Tasche in ein Flugzeug steigen zu können. Die Menschen, die wir bei der Seenotrettung retten, fliehen vor Umständen, die wir uns nicht vorstellen können und über die viele nicht einmal sprechen wollen. Sie haben oft keine andere Wahl, als auf diese seeuntauglichen Boote zu steigen. Und dennoch hoffen sie, dass alles was da kommen mag, besser ist als das, was sie zuvor in Libyen erleben mussten. Ich weiß, dass ich hier mit dem, was ich gelernt habe, helfen kann – also tue ich das. Ich könnte nicht damit leben, all das zu sehen, was auf dem Mittelmeer geschieht, und nichts zu tun.
Wie hast du die Unterschiede in der Art und Weise wahrgenommen, wie in Großbritannien und Italien über Geflüchtete und Migration gesprochen wird?
Den öffentlichen Diskurs zu Flucht und Migration habe ich in Großbritannien definitiv anders wahrgenommen als in Italien. Irgendwie gab es eine sensiblere Herangehensweise, also differenziertere Meinungen, wenn man es so ausdrücken will. Ich habe auch festgestellt, wie viel schwieriger es in Italien ist, leicht zugängliche Informationen zu diesen Themen und auch der Seenotrettung zu bekommen. Viele meiner Freund*innen in Italien beispielsweise wissen oft gar nicht, was direkt vor unserer Haustür geschieht. Das liegt nicht nur, aber auch daran, dass die Medien diese Themen bewusst ausblenden. Man muss aktiv nach Informationen suchen und wissen, wo man sie findet. Die Mainstream-Medien in Italien liefern dazu kaum etwas.
Welche Aufgaben hast du als Krankenschwester auf einem Rettungsschiff wie der Humanity 1? Und wie lässt sich diese Rolle im Vergleich zu deiner bisherigen Arbeit an Land einordnen, falls ein Vergleich möglich ist?
Ich habe die meiste Zeit meines Berufslebens in Notaufnahmen gearbeitet. Diese Erfahrung ist definitiv hilfreich für die Arbeit der Seenotrettung auf einem Rettungsschiff. Mein erster Job als Krankenschwester an Bord – gemeinsam mit unserem medizinischen Team bestehend aus Arzt/Ärztin, Psycholog*in, Hebamme und mir – besteht darin, die restlichen Crewmitglieder für medizinische Notfälle zu schulen. Sobald wir dann im Einsatzgebiet sind und Überlebende an Bord nehmen, sind wir für die medizinische Versorgung der Menschen zuständig. Eine meiner Aufgaben ist beispielsweise die Triage durchzuführen, wenn Gerettete von unserem SAR-Team auf den RHIBs (Festrumpfschlauchboote) zu uns auf das Schiff gebracht werden.
Die Triage, die wir hier bei der Seenotrettung machen, kannst du aber nicht mit der in einem europäischen Krankenhaus vergleichen. Das erlauben weder die Umstände noch Gegebenheiten. Sobald wir einen Notfall haben, kommuniziert das unser SAR-Team direkt an die Brücke. Diese stellt sicher, dass wir als medizinische Crew alle relevanten Informationen dazu erhalten. Wir haben dann die Möglichkeit, uns auf das was folgt, vorzubereiten.
Meine konkrete Rolle ist es, an Deck zu warten, und die Geretteten zu empfangen und ihnen aus den Rettungswesten zu helfen. In diesem kurzen Moment, in dem ich ihnen die Rettungswesten abnehme, führe ich die erste Triage durch. In drei bis fünf Sekunden muss ich einschätzen, ob die gerettete Person sofortige medizinische Hilfe braucht, später behandelt werden muss oder erst einmal keine Hilfe braucht. Das ist in diesem Moment entscheidend. Danach hängt meine Arbeit und die des gesamten Teams vom Zustand der Menschen ab, die wir retten konnten.
Und dann?
Im besten Fall können wir dann eine klassische klinische Versorgung vornehmen. Das bedeutet, wir versorgen leichte Verletzungen oder aber Menschen mit chronischen Erkrankungen. Diabetes, Bluthochdruck oder unbehandelte Infektionen sind sehr häufig. Viele der Geretteten hatten jahrelang keinen Zugang zu medizinischer Versorgung. Bei unserem letzten Einsatz kam es zu einem Szenario, das einem in Notaufnahmen gleichkam. Viele Überlebende waren schwer krank und benötigten medizinische Hilfe. In unserer Klinik an Bord sind die Ressourcen begrenzt. Wir hatten zeitgleich einen Patienten, der intensiv medizinisch betreut werden musste, nachdem wir lebenserhaltende Maßnahmen ergriffen hatten. Solche Fälle können wir auf dem Schiff zwar versorgen, aber dann muss schnell externe Hilfe folgen. In diesem Fall kam diese sehr spät, zum Glück nicht zu spät.
Kannst du mehr über diesen konkreten medizinischen Notfall berichten, den ihr während des Einsatzes bei der Seenotrettung erlebt habt? Wie wurde mit der Situation umgegangen?
Dieser Fall war bei unserem letzten Einsatz definitiv unsere größte Herausforderung und hat unsere gesamte medizinische Kapazität beansprucht. Während dieser Zeit konnten wir keine anderen Menschen mehr versorgen, die ebenfalls Hilfe benötigt hätten. Der Patient zeigte Anzeichen eines multiplen Organversagens, brauchte Sauerstoff, Infusionen und intensive Überwachung. Wir haben ihn zum Glück stabilisiert bekommen. Aber uns war klar, dass er umgehend an Land gebracht werden muss, um zu überleben.
Wie gehst du mit den psychischen Belastungen nach solchen Situationen bei der Seenotrettung um?
Jeder geht anders mit Stress um und ich kann da nur für mich sprechen. Ich kann mit sehr stressigen Situationen umgehen und kann viele Menschen und Lärm um mich herum dabei aushalten. Aber ich muss dann auch irgendwie wieder Energie tanken. Ich stehe an Bord sehr früh auf. Bevor ich andere Crewmitglieder treffe, kümmere ich mich um mich selbst – mache Yoga oder meditiere. Ich brauche diese Zeit für mich allein. Tagebuch zu führen hilft mir auch sehr.
Und wenn ich dann Glück habe, ist da am Ende des Tages jemand aus der Crew, mit dem ich reden kann – das ist immer ein echter Bonus. Grundsätzlich ist die Routine für mich wichtig, um mit dem täglichen Druck klarzukommen. Manchmal setze ich mich nach einem Einsatz hin, komme zur Ruhe und denke: ‚Wow, all das ist wirklich innerhalb von nur 24 Stunden passiert?‘ Es ist unglaublich und versetzt mich jedes Mal in Staunen.
Als jemand, die Krisen im Mittelmeer aus erster Hand erlebt hat, wie beurteilst du die aktuelle Politik der italienischen Regierung hinsichtlich der Seenotrettung der NGOs? Welche Auswirkungen haben diese Richtlinien deiner Meinung nach auf die Situation der Geflüchteten?
Ich bin einfach schockiert von dem, was Europa da 2024 immer noch für ein Gesicht zeigt. Wie langsam und unorganisiert Menschen beispielsweise an Land gebracht werden, zeigt sich im Prozess in den Häfen, in der Arbeit der beteiligten Organisationen und in der Versorgung der Menschen, sobald sie an Land gehen. Ganz abgesehen von der ‚Politik der weit entfernten Häfen‘, die völlig unnötig ist. Sie zieht die zivilen Schiffe der NGOs aus der Rettungszone ab. Das heißt, dass in der Zeit Menschen ertrinken oder nach Libyen rückgeführt werden und niemand ist da um zu helfen, niemand sieht, was passiert. Wenn wir dann mit Geretteten in irgendeinem Hafen im Norden Italiens eintreffen, werden die Menschen wie bei uns zuletzt viele Stunden mit dem Bus in die Aufnahmeeinrichtungen im Süden gebracht – dahin, wo wir herkommen.
Man könnte meinen, dass die Art wie entschieden wird, welche Menschen es wert sind, gerettet zu werden und wie man sie anschließend behandelt, an ihrer Hautfarbe festgemacht wird: Die italienische Küstenwache betreibt viel Aufwand bei der Rettung von Menschen auf Yachten und weiß dies medial gut aufzuarbeiten, während Gerettete der zivilen Flotte zweitklassig behandelt werden. Das darf nicht passieren – nicht in einer zivilen Gesellschaft, nicht in einem Europa, das vorgibt Menschenrechte zu achten. Mit Blick auf den neuen Italien–Albanien Deal wird es mir ganz anders. Dass Italien eigene Aufnahmezentren in Albanien errichtet und betreiben will, sollte uns allen große Sorgen bereiten.
Welche konkreten Bedenken bestehen hinsichtlich der geplanten Zentren? Weißt du etwas über den aktuellen Stand der Zusammenarbeit in diesem Bereich?
Ich bin keine Expertin auf dem Gebiet, weiß aber, dass der Start der Zusammenarbeit quasi vor der Tür steht. Soweit ich weiß, wird es ein Aufnahmezentrum in Albanien geben, in dem Schnellverfahren durchgeführt werden sollen, um Menschen in ihre Herkunftsländer zurückzuschicken. Es scheint, dass nur Menschen aus sogenannten ‚sicheren Herkunftsländern‘ oder solche, die nicht als besonders gefährdet gelten, dorthin gebracht werden sollen. Die Liste der ‚sicheren Länder‘ ist erschreckend – da sind Länder aufgeführt, in denen ich mich persönlich definitiv nicht sicher fühlen würde, aber anscheinend gelten sie für andere als sicher genug für eine Rückführung. Es lohnt sich, einen Blick auf diese Liste zu werfen.
Ich bin mir nicht mal sicher, wie dieser Auswahlprozess für das neue Aufnahmelager genau ablaufen soll. Es bleiben viele offene Fragen. Ich befürchte, dass Schutzsuchende, die als besonders vulnerabel eingestuft sind, dennoch dort landen können, denn wie genau eine Prüfung des Status laufen soll, weiß niemand. Meine größte Sorge ist, dass das Recht auf Asyl nicht gewahrt wird und Menschen in Länder abgeschoben werden, in denen sie nicht sicher sind. Ich verstehe nicht, warum diese Verfahren und die Unterbringung überhaupt in Albanien stattfinden muss und nicht in Italien oder einem anderen europäischen Land.
Glaubst du, dass die Öffentlichkeit in Italien sich des italienisch-albanischen Abkommens und seiner Auswirkungen bewusst ist, oder bleibt dieses Thema weitgehend unter dem Radar?
Ich glaube nicht, dass die Bevölkerung ausreichend informiert ist. Wenn ich mit Freunden und Kollegen spreche, wird mir klar, dass viele keine Ahnung haben, was wirklich vor sich geht. Oft hört man die Frage: ‚Warum fliehen diese Menschen in seeuntauglichen Booten und nehmen nicht einfach ein Flugzeug?‘ Das zeigt, wie wenig Verständnis für ihre Situation vorhanden ist. Es geht nicht darum, zwischen Migrant*innen und Geflüchteten zu unterscheiden – alle, die aus Libyen fliehen, haben keinen anderen Ausweg. Sie fliehen vor Folter, Vergewaltigung und Menschenhandel. Die Menschen, über die wir hier reden, haben keine Wahl. Sie riskieren ihr Leben, weil sie keine andere Möglichkeit haben, sich in Sicherheit zu wissen. Zu denken, sie könnten ‚einfach andere Wege wählen‘, greift viel zu kurz.
Es gibt ein großes Maß an Unwissenheit darüber, was im Mittelmeer geschieht, und das wird durch eine mangelhafte Berichterstattung verschärft. Ich beschäftige mich intensiv mit diesem Thema, und selbst mir fällt es schwer, in den italienischen Medien ausreichend Informationen darüber zu finden. Das scheint gewollt: Wo keine Berichterstattung stattfindet, da gibt es am Ende auch kein Problem.
Text & Fotos: Judith Büthe für SOS Humanity
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