Es ist Sommer. Wir freuen uns auf Park, Festivals, Draußensein. Wäre da nicht dieses Problem mit den Toiletten. Ein Gedanke der den meisten Cis-Männern wohl eher fremd ist, für FLINTA* aber alltäglich. FLINTA*-Personen, ein Begriff der eine breite Gruppen an Identitäten vereint, haben mindestes eins gemein: Wir müssen das alltägliches Grundbedürfnis pinkeln planen. Ein Mangel an öffentlichen Toiletten machen den Harndrang zu unserem täglichen Management-Projekt: Muss ich vorher noch mal? Gibt’s dort ein Klo, dass ich nutzen kann, ohne Geld, ohne Sprüche und Blicke oder eine ewig lange Schlange? In Berlin gibt es zum Beispiel gerade mal 485 öffentliche WCs, bei einer Millionenstadt! Und nicht einmal die Hälfte davon ist kostenfrei. Bei den meisten heißt es: 50 Cent für eine Sitzkabine, Pissoir kostenlos. Das Patriarchat enttäuscht wirklich nicht, wenn’s um absurde Ungleichheit geht.
Dann bleibt nur Wildpinkeln. Aber das heißt: Hose runter, Hocken, vulnerabel für Übergriffe sein. Und wenn die Polizei kommt, kanns teuer werden. Das Bußgeld liegt zwischen 35 und 5000 Euro und mit einer runter gezogener Hose rennt es sich nicht so gut wie wenn nur der Reißverschluss offen ist. Die Liste, wie nicht Cis-männliche Körper in der Öffentlichkeit keinen Raum haben, ist damit noch nicht zu ende. Warum ist das so? Weil der öffentliche Raum und Toiletten von Cis-Männern für die Bedürfnisse von Cis-Männern gebaut werden. Das es aber auch anders geht, wenn FLINTA* die Sache selbst in die Hand nehmen, zeigt das Projekt FLINTA*Piss auf der Fusion. Ich habe mit Chio (dey/deren) und Jana (sie/they) darüber gesprochen, wie man Toiletten so gestaltet, dass sich endlich mal was verändert.
Am Ende des Artikels findet ihr ein Glossar zu den im Gespräch benutzten Begriffen.
Mit FLINTA*-Piss habt ihr ein ganz neues Toilettenkonzept auf der Fusion etabliert. Was ist das für ein Ort?
Chio: FLINTA*Piss sind vier Stationen auf der Fusion, an denen FLINTA*-Personen pissen können. Es sind Orte, an denen nicht lange angestanden werden muss und die hoffentlich auch Safer Spaces sind, die besonders die Bedürfnisse von TIN* (Trans*, Inter, nicht-binäre) Personen auf dem Schirm haben!
Jana: Der Bereich besteht hauptsächlich aus Hockpissrinnen, teilweise mit Türen und einzelnen sichtgeschützten Stehpissrinnen. Außerhalb des Hauptbereichs gibt es auch All-Gender-Hockpissrinnen. So versuchen wir, möglichst viele Bedürfnisse abzudecken und so inklusiv wie möglich zu arbeiten. Hundertprozentig gelingt uns das nicht, deswegen machen wir zusätzlich Bildungsarbeit an den Stationen, um einen möglichst sicheren Ort zu kreieren.




Lange gibt es euch ja auch noch nicht. Wie seid ihr darauf gekommen, solch einen Ort schaffen zu wollen? Gab es einen konkreten Anlass?
Jana: Ich war damals noch Teil einer anderen Crew. Anscheinend stand es schon länger auf der Baubüroliste von Kulturkosmos, dem Verein hinter der Fusion, FLINTA*-Pissrinnen zu bauen. Vor vier Jahren, so knapp zwei Wochen vor dem Festival, haben sich spontan einige Engagierte zusammengetan, um das Projekt endlich anzugehen. Dafür wurden mit Müllresten andere Projekte ein Teil der Stehpissrinnen in Hockpissrinnen umgebaut. Viele sind damals Abends nach ihrer Schicht vorbeigekommen, um das Projekt zu ermöglichen.
Es war am Anfang also eher ein Versuch, der aber total durch die Decke gegangen ist. Es gibt eine Website für Festival-Feedback. In dem Jahr ging es eigentlich nur um FLINTA*-Piss. Das hat die Fusion geprägt, das war ein Meeting Spot. Ein Jahr später gab’s Budget für zwei weitere Orte, inzwischen sind wir als eigene Crew fester Teil der Festivalinfrastruktur.
Während meiner Schicht haben mir viele erzählt, FLINTA*Piss sei ihr Festival-Highlight. Was war euer persönliches Highlight in der Arbeit?
Chio: Das ist vielleicht kein Highlight in dem Sinne, aber ich habe im Gäst*innenbuch, die an jeder Station ausliegen, gelesen und der erste Eintrag war: „Ich bin trans und ich habe mich getraut, hier zu pissen – es war ganz toll.“ Solche Erfahrungen sind immer schön. Auch eine befreundete Transperson wurde weder Outgecalled oder komisch angeguckt. Ganz allgemein die Begeisterung und Wertschätzung, die uns entgegenkommt ist mein Highlight.
Jana: Ich bin als Orga-Person eher im Alarmmodus, am Probleme Suchen und sehe ständig, was wir verbessern können. Ich freue mich richtig über das viele positive Feedback, aber das negative Feedback klingt bei mir immer mehr an. Mich beschäftigt viel, wie wir das ernst nehmen und umsetzen können, damit es ein noch geilerer und TINA*-inklusiver Ort wird.
Ihr habt Outcalling und schiefe Blicke bereits angesprochen. Ich habe auch an das Thema „Zwangsouting“ beim Betreten von FLINTA-Räumen gedacht. Sind das die Probleme, von denen ihr sprecht, und wie versucht ihr trotzdem, den Safe Space aufrechtzuerhalten?
Chio: Mir ist wichtig zu sagen, dass wir bewusst nicht von einem Safe Space sprechen, sondern von einem Safer Space. Auch mit Betreuung und Bildungsarbeit können wir keinen komplett sicheren Ort schaffen. Es ist ein komplexes Thema, wie man FLINTA*-Räume trans*-inklusiv gestalten kann. Viele Transpersonen fühlen sich in ausgeschriebenen FLINTA*-Räumen nicht wohl: Sie werden outgecalled oder ausgeschlossen, weil Menschen meinen, sie gehören nicht dazu. Deshalb achten wir besonders darauf, wie TIN*-Personen bei uns aufs Klo gehen können. Aber es hängt immer davon ab, wer gerade in der Schlange steht und wie jemand gelesen wird. In unseren Schichten sprechen wir bewusst keine männlich gelesenen einzel Personen an, aber können nicht vermeiden, dass Gäst*innen es machen. Leider sind es vor allem Cis-Frauen, die TIN*-Personen outcallen.
Jana: Die Allgender Hockrinnen sind das Ergebnis solch einer Erfahrung und eines längeren Gesprächs mit einer Person. Sie stehen als Kabinen neben dem Umzäunten FLINTA*-Bereich. So können Gruppen am selben Ort Pissen gehen, ohne sich in Situationen begebenzu müssen in der sie Blicke oder doofe Sprüche kassieren oder ein outing riskieren.
Chio: Wir haben auch besprochen, nächstes Jahr die Kabinenwände mit Türen im FLINTA*-Bereich höher zu bauen. Dann kann, gerade beim Hose hochziehen, niemand drüber schauen.
Jana: Gleichzeitig wollen wir nicht zwischen allen Kabinen Wände. Das offene Pissen ist auch Wertvoll und kann etwas sehr empowerndes haben. Es braucht einfach eine Vielfalt an Piss-Möglichkeiten, um allen Bedürfnissen gerecht zu werden


Ist das auch eure persönliche Motivation – möglichst viele unterschiedliche Piss-Möglichkeiten zu schaffen? Oder was treibt euch an, weiter an dem Konzept zu arbeiten?
Jana: Ich bin eine Person, die echt oft pissen muss (lacht). Ich hasse Warten, das schlägt auf die Stimmung. Lange mussten Menschen manchmal bis zu einer halben Stunde oder Stunde anstehen, nur um mal kurz pissen zu können. Das ist nicht nur auf der Fusion sondern generell bei öffentlichen Toiletten ein Problem. Mittlerweile liegt es mir total am Herzen, weil ich mir seit vier Jahren den Kopf zerbreche: Was für ein Ort wir sind, sein wollen und wie wir dahin kommen. Das – und schnelles Pissen gehen.
Chio: Für mich ist es wirklich vor allem, einen TINA*-inklusiven Ort zu schaffen und die Herausforderung von (maskulinen) Transmenschen einzubeziehen. Ich bin selber trans, passe aber als weiblich – andere aber nicht. Transinklusivität wird in der Gesellschaft und auch bei linken Festivals selten mitgedacht. Ich hab Bock, daran zu arbeiten, dass Barrieren nicht nur baulich, sondern auch im Kopf abgebaut werden.
Beschäftigt ihr euch auch außerhalb der Fusion mit dem Thema oder denkt anders über Pissen nach?
Chio: Ja! Pissen ist politisch! Die Welt ist für Cis-Männer gemacht. Das zeigt sich besonders bei grundlegenden Bedürfnissen wie Gesundheit, Hygiene und Versorgung. Cis-Männer haben viel mehr Möglichkeiten oder nehmen sich einfach das Recht raus, im öffentlichen Raum zu urinieren. Für FLINTA*-Personen ist das mit einem viel höheren Risiko verbunden. Warum gibt es so wenig öffentliche Toiletten? Und wenn es welche gibt: Wird Hygiene und Menstruation mitgedacht? Pissen ist einfach das Alltäglichste überhaupt. Vor dem Projekt war es für mich eher etwas Privates. Mittlerweile merke ich, wie wichtig es ist, darüber zu reden.
Warum haben sich FLINTA*-Toiletten eurer Meinung nach noch nicht in der Öffentlichkeit durchgesetzt?
Chio: Ich hab das Gefühl, dass weder die Gesellschaft noch Institutionen eine Relevanz gesehen wird, All-Gender oder explizit FLINTA* Toiletten zu schaffen. Meistens gibt es sie nur in progressiven oder linken Räumen, in denen viele queere Menschen aktiv sind. Wir sind eben eine Minderheit und die Mehrheit der Gesellschaft sieht die Probleme mit den Toiletten nicht. Binäres Denken und Transfeindlichkeit sind weit verbreitet, da fehlt das Verständnis, welche Auswirkungen die Toilettensituation für TIN*-Personen haben kann. Vorurteile sind so tief verankert, dass die Hürden für Inklusivität hoch bleiben. Institutionen wie z. B. Universitäten Argumentieren häufig: „Dann kommen irgendwelche Männer in die Toiletten“. Es geht aber eigentlich darum, dass Transfrauen Frauen sind und somit keine Männer! Auch rechtes Gedankengut und traditionelle Werte tragen zu dieser Denkweise bei.
Statistiken zeigen: Transpersonen sind nicht die, vor denen sich Cis-Frauen in Acht nehmen müssen. Übergriffe passieren statistisch gesehen meistens von Cis-Männern im familiären oder engeren intimen Umfeld. Das wird in der breiten Gesellschaft ignoriert
Anmerkung der Redaktion: Statistiken der Polizei und des Bundeskriminalamts zeigen, dass nicht nur die Gewalt gegen Frauen in allen Bereichen – Sexualstraftaten, häusliche Gewalt, Menschenhandel zum Zweck der sexuellen Ausbeutung, digitale Gewalt und Femizide – zunimmt, sondern auch, dass Täter vor allem männlich und aus dem Umfeld der Opfer sind.
Wie würden denn für euch eine optimale Toilette aussehen?
Chio: Darüber hab‘ ich noch nie so richtig nachgedacht (lacht). Ein Problem an Hockrinnen ist, dass Menschen mit Einschränkungen etwas zum Hinsetzen benötigen. Man bräuchte also beides. Ein Traum wäre natürlich, wenn sich Rinnen mit einer Konstruktion zum Runterklappen vom Sitz oder Ähnlichem kombinieren ließen.
Jana: Für mich wären All-Gender-Toiletten mit verschiedenen Kabinen, die sich an unterschiedliche Bedürfnisse richten, optimal. Eine Kabine mit Stehpissrinnen, eine mit Hockpissrinnen und eine mit festen Sitztoiletten.

Und für die Fusion, was sind da fürs nächste Jahr eure Vorstellungen?
Chio: Ich will noch sagen: So eine Kombi aus allem in einer Toilette finde ich auch gut. Ich stelle es mir zwar kompliziert vor, aber maybe one day. Für die nächste Fusion haben wir, bis auf höhere Wände, nichts Konkretes geplant, aber da ist auf jeden Fall noch Luft nach oben. Vor zwei Jahren haben wir die Trans-Anarchie-Flagge und die Progressive-Pride-Flagge aufgehängt, als Zeichen dafür, für wen dieser Ort ist, und für Sichtbarkeit. Daran weiterzuarbeiten, bleibt unsere kontinuierliche Aufgabe. Vielleicht fangen wir damit an, die neuen Hockpissrinnen bei den Kompoletten einzugliedern oder noch mehr Awarenessarbeit zu machen.
Jana: Also dazu gesagt: Der Pissstern wurde dieses Jahr komplett kernsaniert und neu gebaut, aber auch wieder aus Resten, die wir gefunden haben – einfach um so einen Punker-Space zu behalten.
Chio: Genau, uns ist wichtig, das Ganze als DIY-Projekt zu halten. Damit Leute es auch nachbauen können und sich FLINTA*-Piss einfach verbreiten lässt.

FLINTA*Piss zeigt, was wir uns mehr für die Öffentlichkeit wünschen: Toiletten, die sich unterschiedlichen Bedürfnissen anpassen, so wie es für Cis-Männer seit jeher selbstverständlich ist. Das dies bisher noch nicht im großem Rahmen passiert ist, ist kein Zufalls sondern ein weiteres Ergebnis patriarchaler Strukturen. Dabei zeigen FLINTA*-Piss und ein Beispiele aus Leipzig, dass es anders geht: In einem Park steht ein kleines Toilettenhäuschen das sich ausgestatte mit Rampe, Sitztoilette, Unisex-Urinal, Waschbecken, Desinfektionsmittel und Wickelstation an unterschiedliche Bedürfnisse richtet. Solche Orte dürfen nicht die Ausnahme bleiben. Es ist höchste Zeit, dass unsere Piss-Situation nicht länger an patriarchalen Standards scheitert – sondern sich an realen Bedürfnissen orientiert. Auch außerhalb von Festivals.
Glossar
FLINTA* – Bedeutet Frauen, Lesben, Inter*-, Nicht-binäre-, Trans*- und Agender*-Personen. Umfasst also alle Identitätsgruppen, die nicht cis Männer sind. Das „*“ schließt alle nicht explizit genannten Identitätsgruppen mit ein.
TINA* – Bedeutet Trans*-, Inter*-, Nicht-binäre- und Agender*-Personen. Das „*“ schließt auch hier alle nicht erwähnten Identitätsgruppen mit ein.
Cis – Kurz für cisgeschlechtlich. Bezeichnet Personen, deren Geschlechtsidentität mit dem bei der Geburt zugewiesenen Geschlecht übereinstimmt.
Outcalling – Beschreibt, dass eine Person in der gesellschaftlich vorherrschenden binären Geschlechterordnung anders gelesen wird, als sie sich selbst identifiziert, weswegen Personen die (Cis-)männlich gelesen werden, aufgefordert werden, einen FLINTA*-Raum zu verlassen oder ihnen gesagt wird, dass sie dort nicht hingehören. Um diesem Problem zu begegnen, hängen in allen FLINTA*Piss-Stationen Plakate mit der Aufschrift „Gender has no Look“.
Zwangsouting – Beschreibt die unfreiwillige Offenlegung der eigenen Geschlechtsidentität, z. B. beim betrete eines FLINTA*Raums oder wenn Personen ein anderes Geschlecht annehmen und die Person gezwungen ist sich zu outen.
Passing – Beschreibt, dass eine Person in der gesellschaftlich vorherrschenden binären Geschlechterordnung so gelesen wird, wie sie sich selbst identifiziert, und dadurch z. B. kein Outcalling erfährt.
Progressive-Pride-Flagge – Eine Weiterentwicklung der Regenbogenflagge, die zusätzlich Farbstreifen als dreieckig geformte Pfeile im linken Teil der Flagge hat. Dies sind zum einen die Farben der Trans*-Pride-Flagge (hellblau, rosa, weiß) sowie Schwarz und Braun. Diese symbolisieren die Inklusion von trans Personen sowie Schwarzen und People of Color innerhalb der queeren Community.
Trans-Anarchie-Flagge – Eine Kombination aus der Trans*-Pride-Flagge und anarchistischen Symbolen oder Farben. Sie steht für eine queerfeministische, antiautoritäre und transinklusive Gesellschaftskritik.
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