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Abtreibung entkriminalisieren – 5 Minuten mit Lea-Marie von Halle for Choice 

30 Grad, Sonnenschein und Wochenende. Die meisten Menschen liegen am See, tausende Antifaschist*innen versammeln sich in Jena, um ihre Solidarität mit ihren von Repressionen betroffenen Mitstreiter*innen auszudrücken, doch ein Bus aus Leipzig fährt in eine andere Richtung. Das Ziel ist Annaberg-Buchholz. Eine Stadt mit knapp 20.000 Einwohnenden im im sächsischen Erzgebirge, die einmal im Jahr Schauplatz einer ideologischen Gegenüberstellung wird. Seit 2010 kommen jährlich hunderte christliche Fundamentalist*innen in den Ort, um den sogenannten „Schweigemarsch für das Leben“ zu organisieren – ein Schweigemarsch, mit dem sie ihre Agenda gegen Abtreibung auf die Straße tragen wollen. 

Pro Choice Leipzig hat deshalb auch dieses Jahr Protest organisiert, an dem auch Halle for Choice teilnahm, um den Schweigemarsch nicht unwidersprochen laufen zu lassen. Sie bewegen sich damit in keinem einfachen Umfeld, denn die Region im Erzgebirge weist trotz DDR-Vergangenheit eine stark christliche Prägung auf. Auch gestern sahen sich die rund 100 bis 200 Demonstrant*innen, die dem Aufruf von Pro Choice Leipzig gefolgt sind, einer Überzahl an schweigend Marschierenden gegenüber (Angaben variieren in den Medien zwischen 150 und 400). 

Hinter dem Schweigemarsch steht der Verein Lebensrecht Sachsen e. V. Für den Schweigemarsch haben sie Annaberg-Buchholz nicht nur wegen der christlichen Prägung gewählt. Sie haben die Stadt gewählt, weil sich dort mit der Erzgebirgsklinik die einzige Klinik der Region befindet, die Abtreibungen durchführt. Der Verein selbst ist kein unpolitisch-christlicher Verein. Der Gründungs- und Vereinsvorsitzende Thomas Schneider war zuvor bei den „Christdemokraten für das Leben“ (CDL) – einer konservativen innerparteilichen Organisation der CDU – aktiv. Zudem gibt es zahlreiche Berichte über ideologische und personelle Verbindungen der „Lebensschutz“-Bewegung zur Neuen Rechten und der AfD.

Auch deshalb war die Polizei mit einem Großaufgebot vor Ort. Bei einer stark zunehmenden Anzahl gewaltsamer neonazistischer Übergriffe befürchteten auch einige der Teilnehmenden am Gegenprotest Angriffe. Sie ließen sich jedoch nicht einschüchtern und organisierten gemeinsame Anreisen aus unter anderem Chemnitz, Dresden, Halle und Leipzig.

Am Rand der lautstarken Abschlusskundgebung konnten wir ein kurzes Gespräch mit Lea-Marie vom Bündnis Halle for Choice – einem Bündnis für reproduktive Selbstbestimmung führen: 

Warum bist Du heute hier? 

Die Auffassung von unserem Bündnis ist es, dass jede Person, die schwanger werden kann, selbst entscheiden können sollte, ob sie diese Schwangerschaft durchführen möchte. Wir sind also heute hier, um dafür zu demonstrieren, dass Abtreibung ein Recht für alle wird. Wir stellen uns daher entschieden gegen den sogenannten „Marsch des Lebens“, den der christlich fundamentalistische Lebensrechte e.V. organisiert.

Weshalb ist das gerade aktuell? Gab es in letzter Zeit politische Veränderungen, vielleicht auch mit dem Regierungswechsel?

Unter der Ampelregierung sah es zumindest positiver aus, weil sie eine Kommission eingesetzt hat, die sich mit dem Thema auseinandergesetzt und empfohlen hat, die Gesetzeslage zu verändern. Die Kommission wollte durchsetzen, dass Abtreibung nicht mehr im Strafgesetzbuch unter Paragraf 218, sondern wie alle anderen gesundheitlichen Dinge, an anderer Stelle geregelt wird. Die Große Koalition hat das aber komplett über den Haufen geworfen und will an dem Thema der Entkriminalisierung von Schwangerschaftsabbrüchen in Zukunft nicht weiterarbeiten. 

Kannst du noch einmal kurz erklären, was der Paragraf 218 bedeutet? 

Der Paragraf 218 im Strafgesetzbuch stellt Schwangerschaftsabbruch komplett als Straftat dar. Es gibt zwar darauffolgende Paragrafen, die festlegen, in welchen besonderen Situationen es erlaubt ist. Zunächst einmal ist es laut Paragraf 218 aber verboten, abzutreiben.

Was bedeutet das praktisch für einen Menschen, der abtreiben will? 

Aktuell haben wir in Deutschland die 12-Wochen-Fristregelung. Das heißt, man muss innerhalb von 12 Wochen, nachdem man schwanger geworden ist, abtreiben. Danach geht es straffrei nur noch unter Angabe medizinischer oder kriminologischer Gründe – zum Beispiel nach einer Vergewaltigung. Dann sind die Fristen etwas länger. Außerdem müssen Abtreibungen selbst gezahlt werden, es sei denn, man bekommt Sozialleistungen. Es gibt keine bezahlten Krankentage vor oder nach der Abtreibung. Man muss Urlaubstage nehmen. Eine Abtreibung ist in der Gesellschaft stark stigmatisiert. Die Menschen müssen eine Pflichtberatung besuchen, obwohl erwiesen ist, dass quasi alle, die zu den Beratungen gehen, ihre Entscheidung bereits getroffen haben. Nach der Beratung müssen sie erneut zwei Tage warten, was die 12 Wochen Frist weiter ausreizt. 

Wer steht euch heute hier schweigend gegenüber?

Es ist eine Gruppe, die unter anderem Falschinformationen verbreitet. Letztes Jahr war hier zum Beispiel der Gründer von „Profeminina“. Das ist eine Seite im Netz, die Fehlinformationen über Abtreibungen veröffentlicht. Zum Beispiel wird dort behauptet, dass es ein Post-Abortion-Syndrom gäbe. Demnach hätten Menschen nach einer Abtreibung Depressionen und körperliche Dysfunktionen. Das stimmt schlicht nicht. Diese Menschen hetzen, verbreiten Fehlinformationen und treten die Rechte von Menschen, die schwanger werden können, mit Füßen. 

Kannst du abschließend noch einmal die Forderungen von dir und deiner Gruppe nennen? 

Unsere Forderungen sind, dass Schwangerschaftsabbrüche entkriminalisiert wird. Dass die Kriminalisierung aus dem Strafgesetzbuch gestrichen wird; dass die Person, die schwanger werden kann, selbst entscheidet, ob sie abtreiben möchte oder nicht. Dass die 12-Wochen-Regelung aufgehoben und zum Beispiel wie in den Niederlanden auf 22 Wochen angehoben wird, sowie dass man bei einer Abtreibung bezahlte Krankheitstage bekommt. Viele dieser Änderungen sind in anderen europäischen Ländern schon gängige Praxis. 

Vor allem wollen wir aber, dass Abtreibung in der Gesellschaft nicht mehr so stigmatisiert wird. Es muss mehr drüber geredet werden, denn viele haben in ihrer Familie Menschen, die Schwangerschaftsabbrüche haben durchführen lassen. Es wird aber tabuisiert und nicht darüber gesprochen. 

Mit dem Regierungswechsel sind viele dieser Forderungen wahrscheinlich in die Ferne gerückt. Wie macht ihr weiter?

Natürlich sind wir als Gruppe in unserem Handeln begrenzt. Wir werden uns aber weiterhin klar politisch positionieren, unsere Position nach außen tragen und Menschen informieren. Dazu organisieren wir Veranstaltungsreihen, bei denen wir Menschen über die zuvor genannten Fehlinformationen aufklären. Wir hoffen, dass eine besser Informationslage zu mehr Verständnis führt und irgendwann der politische Wille kommt, etwas zu ändern. Dazu treten wir auch mit politischen Vertreter*innen in Kontakt.

Der Kampf gegen rechte Raumname im „Hinterland“ ist mit einer erstarkenden AfD wichtiger dennje, aber auch nicht risikofrei. Mit Ocean und Cindy haben wir genauer darüber geredet, was bedeutet, links auf dem Land zu sein.

Mehr zu einer feministischen und inklusiven Gesundheitsversorgung gibt es hier und hier zum Nachlesen.

  1. Viel à Ment says:

    „Die Große Koalition (…) will an dem Thema der Entkriminalisierung von Schwangerschaftsabbrüchen in Zukunft nicht weiterarbeiten.“

    Die gute alte €DU: Sich die Schöpfung von einer völlig maßlosen Wirtschaftslobby zerstören lassen; Nächstenliebe endet genau an der europäischen (jetzt sogar schon deutschen) Grenze – aber wenn es darum geht, über Frauenbäuche zu entscheiden, eine vermeintlich „christliche“ Argumentation bemühen… Verlogener gehts nimmer!

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