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Zwischen EU und Russland: Warum die Parlamentswahl in Georgien auch für Europa entscheidend ist

Das Superwahljahr 2024 ist noch nicht vorbei: Neben der EU-Wahl im Juni und den Landtagswahlen in Thüringen, Sachsen und Brandenburg liegt die mediale Aufmerksamkeit nun bei den USA und der Präsidentschaftswahl am 5. November. Während die Welt schon in den Westen blickt, schauen wir in den Osten auf eine Wahl, die international nur wenig Beachtung erhält: Am 26. Oktober findet die Parlamentswahl in Georgien statt. Diese wird nicht nur für die Zukunft des Landes entscheidend sein, sondern möglicherweise auch für die der EU.

Der ehemalige Sowjet-Staat Georgien kämpft seit Jahrzehnten um seine Unabhängigkeit von russischen Einflüssen. Seit 2012 ist die Partei Georgischer Traum an der Regierung beteiligt. Das Land im Kaukasus strebt seit Jahren eine EU-Mitgliedschaft an, was sogar in seiner Verfassung verankert ist. Dann endlich sollte der Traum wahr werden: Im Dezember 2023 erhielt Georgien den Beitrittskandidatenstatus – ein Meilenstein, der große Hoffnungen weckte.

In den letzten Jahren geriet die Regierung jedoch wegen ihrer Russland-freundlichen Politik und vor allem wegen des umstrittenen ausländischen Agenten-Gesetzes in heftige Kritik. Trotz massiver Proteste wurde das Gesetz verabschiedet, woraufhin die EU den Beitrittskandidatenstatus einfror – ein Schock für viele pro-europäische Georgier*innen.

Wir haben uns in Tbilisi mit Tamar ‘Tata’ Jakeli getroffen. Neben der aktuellen Situation der queeren Community in Georgien, die von weiterer Stigmatisierung durch das Anti-LGBTQ-Gesetz betroffen ist, sprachen wir mit der Aktivistin und Direktorin von Tbilisi Pride über die politische Lage Georgiens, Patriotismus und den Traum der EU.

Tata, die Parlamentswahl in Georgien steht bevor. Im Land sieht man gefühlt überall EU-Flaggen hängen. Wie kann es sein, dass ein Land, das sich so sehr nach einem EU-Beitritt sehnt, gleichzeitig anti-europäische Gesetze verabschiedet?

Wir haben mehr EU-Flaggen als die EU selbst (lacht)

Laut Umfragen unterstützen mindestens 80 Prozent der Georgier:innen den europäischen Integrationskurs – das ist das größte Anliegen, das uns eint, mehr als alles andere. Und zunächst unterstützte unsere Regierung das Ziel der europäischen Integration.

Etwa seit 2019, und noch deutlicher nach Russlands Einmarsch in die Ukraine, hat unsere Regierung ihre Außenpolitik geändert. Früher hat die Regierungspartei Georgischer Traum noch Fortschritte im Integrationsprozess erzielt, wie die Visaliberalisierung für Georgier:innen im Schengen-Raum. Doch vor fünf Jahren begann sie, ihre pro-europäische Haltung zu revidieren.

„Wir haben mehr EU-Flaggen als die EU selbst“

Was denkst du, woher dieser Kurswechsel der Partei herrührt?

Niemand weiß das genau. Es lässt sich nur spekulieren, ob russischer Einfluss im Spiel ist, ob Bestechung dahinter steckt, oder ob sie insgeheim pro-russisch sind. Ich denke aber, dass die europäische Integration für den Georgischen Traum bedeutet, Macht abzugeben – denn Demokratie verlangt, dass keine Partei die absolute Kontrolle über Gerichte, Medien und Wirtschaft hat. Und genau das wäre für die Oligarchie hinter der Partei ungünstig.

Wer steckt hinter der Partei bzw. der Oligarchie?

Hinter der Partei steht der 68-jährige Bidzina Ivanishvili, der 2012 die Partei gründete und in den ersten beiden Jahren Premierminister war. Er gilt als der reichste Mann Georgiens und baute sein Vermögen intransparent in Russland auf.

Ich denke, er befürchtet, dass Georgien bei einem EU-Beitritt Gesetze übernehmen müsste, die die Demokratisierung vorantreiben – gefährlich für einen Oligarchen, der Macht und Kontrolle behalten will. Zudem betrachtet er die Welt immer noch aus einer sowjetischen Perspektive. Er fürchtet Russland und sieht es als mächtige Nation, mit der man sich nicht anlegen kann. Es ist einfacher für ihn, mit Russland zu kooperieren, denn EU-Hilfen kommen mit Auflagen, während Russland diesbezüglich lockerer ist. Mit weiteren neuen Akteuren wie China und Saudi-Arabien verfolgt er nun einen pragmatischen, nicht wertebasierten Kurs.

Um diesen Kurs zu rechtfertigen, dämonisiert Ivanishvili den Westen und instrumentalisiert unter anderem die LGBTQ-Community. Er behauptet, der Westen wolle georgische Werte zerstören und Jugendliche ‘verderben’. Diese Rhetorik erinnert an die von Ländern wie Russland und Belarus, die sich vom Westen distanzieren und ihre autoritäre Wende legitimieren.

Ein weiterer Hebel, um sich vom Westen zu distanzieren, scheint das ausländische Agentengesetz zu sein, das vor Kurzem verabschiedet wurde. Es heißt, es sorge für mehr Transparenz im NGO-Sektor. Auch Tbilisi Pride ist betroffen. Kannst du erklären, warum es Massenproteste gab und warum es dennoch verabschiedet wurde?


Die Leute sind dagegen. Sie nennen es das russische Gesetz. Die Regierungspartei verkauft dieses Gesetz als Maßnahme für mehr Transparenz, in Wirklichkeit geht es nur um Kontrolle. Die NGOs in Georgien sind bereits sehr transparent. Jeder Dollar oder Euro, den wir einnehmen und ausgeben, wird von unseren internationalen Partnern und vom Staat genau überwacht. Wir legen jährliche Berichte beim Staat vor und geben Einblick in jede Transaktion.

Transparenz war nie ein Problem im NGO-Sektor, sondern immer bei der Regierung. Einige NGOs untersuchen regelmäßig Deals, an denen sie beteiligt war, und zeigen, wie Millionen ausgegeben werden, ohne dass bekannt ist, wohin das Geld fließt. Vetternwirtschaft und Korruption auf Regierungsebene sind hier weit verbreitet, worüber investigative Journalist:innen regelmäßig berichten. Dieses Gesetz soll eher kritische Stimmen zum Schweigen bringen, was zutiefst anti-europäisch ist und gegen unsere Verfassung verstößt.

In der georgischen Verfassung wurde die Integration in die Europäische Union und die NATO als erklärter Wille des georgischen Volkes festgeschrieben. Ist das auch der Grund, warum eure Präsidentin, Salome Zourabichvili, das Gesetz blockiert hat?

Ja, sie brachte den Fall bis zum Verfassungsgericht. (Anm. d. Red.: Salome Zourabichvili hat zwar das Recht, Gesetze abzulehnen oder zum Verfassungsgericht zu bringen, aber in Georgien hat das Parlament die letztendliche Entscheidungsmacht.) Drei weitere Interessengruppen klagten ebenfalls gegen das Gesetz. Allerdings glaube ich nicht, dass das Verfassungsgericht ganz unbefangen ist, weshalb das Gesetz letztendlich verabschiedet wurde. Salome Zourabichvili möchte die Geschichte Georgiens neu schreiben und alles tun, um das Land der EU näherzubringen. Sie will verhindern, dass Russland erneut unsere Unabhängigkeit zerstört, wie nach dem Kaiserreich und der Sowjetunion. Obwohl sie zuvor Teil des Georgischen Traums war, erkannte sie, dass die Partei sich gegen die Menschen und deren Wunsch nach europäischer Integration stellte. Daraufhin entschied sie sich, sich von der Partei zu trennen und unabhängig zu agieren.

Über 80% der Georgier:innen möchten zur EU gehören.

The Economist hat in seinem jährlichen Demokratie-Index Georgien als hybrides Regime eingestuft, was bedeutet, dass es sowohl demokratische als auch autoritäre Elemente aufweist. Wie äußert sich das in deiner Arbeit als Aktivistin, z.B. bei der Versammlungs- und Redefreiheit?

2023 wollten wir ein Pride-Festival abhalten. Kurz nach unserer Ankündigung wurde eine Gegendemonstration von Rechtsextremen angekündigt. Wir baten das Innenministerium, ausreichend Abstand zwischen uns und ihnen zu halten, damit sie unser Festival nicht angreifen können – wir wollten uns einfach in Sicherheit versammeln. Doch das Innenministerium brach sein Versprechen und entfernte alle Barrieren zwischen uns und den Gegendemonstrant:innen. 2.000 Menschen strömten auf das Festivalgelände und zerstörten alles. Wir wurden zwar evakuiert, erlitten aber hohe finanzielle Verluste, von den emotionalen Schäden ganz zu schweigen.

Das Ministerium behauptete, dass sie uns gegen so viele Gegendemonstrant:innen nicht schützen könnten. Aber in den letzten Jahren gab es immer wieder wütende Demonstrationen vor dem Parlament. Zehntausende Menschen wurden mit Wasserwerfern und Tränengas zurückgehalten – auch ich. Bei Anti-LGBTQ-Demonstrationen entfernt die Polizei die Barrieren und eskortiert die Demonstrant:innen sogar. Das passt für mich nicht zusammen.

Ich organisiere und halte auch Reden auf Protesten, beispielsweise gegen das ausländische Agentengesetz. In diesem Rahmen wurde ich mehrfach vom Regierungssender dämonisiert. Sie behaupten, dass radikale LGBTQ-Aktivist:innen eine Revolution anzetteln und den Staat stürzen wollen. Sie riefen auch meine Mutter mitten in der Nacht an, um sie einzuschüchtern. Ich hatte immer Pfefferspray bei mir und war ständig auf der Hut, obwohl meine Reden patriotisch sind und ich über den Beitritt zur EU und den Widerstand gegen den russischen Imperialismus spreche.

Interessant, dass du so über Patriotismus sprichst. Man schreibt den Begriff ja eher konservativen Werten zu. Was heißt Patriotismus für dich?

Für mich ist es eine tiefe Liebe zu Georgien und der Wunsch nach einer besseren Zukunft für mein Land – davon sind wir momentan jedoch noch weit entfernt. 

Der Patriotismus, den ich verkörpern möchte, ist eine Vision eines inklusiven Georgiens, in dem die Menschen frei sind, so zu sein, wie sie möchten. Historische Beispiele inspirieren mich, besonders die Georgische Erste Republik von 1918 bis 1921. Nach dem Zusammenbruch des Russischen Reiches erklärten wir die Unabhängigkeit. Frauen hatten damals bereits das Wahlrecht, und Georgien war das erste Land, in dem eine muslimische Frau für ein Amt kandidierte. Es gab Arbeiter:innen im Parlament, und das System war sehr links und sozialdemokratisch. Vor allem die junge Generation ist von dieser Zeit inspiriert. Wir möchten ein inklusives, progressives politisches Projekt aufbauen, das politische, kulturelle, soziale und wirtschaftliche Rechte schützt.

Tata ist Geschäftsführerin von Tbilisi Pride.

Was denkst du, wer nun die Parlamentswahl in Georgien gewinnen wird? Die Wahlumfragen bisher sind nicht wirklich eindeutig, trotz Massenprotesten.

Eigentlich sind die Umfragen recht optimistisch für die Abwahl der aktuellen Regierung. Die Unterstützung für Georgischer Traum ist historisch niedrig. Wenn wir in großer Zahl zu den Wahlen erscheinen, haben wir gute Chancen. Die Propagandanarrative der Regierung scheinen an Wirkung zu verlieren – die Menschen interessieren sich mehr für eine bessere Zukunft mit Arbeit, Renten und Perspektiven. Viele wünschen sich einen politischen Wandel, sind aber unschlüssig, wen sie wählen sollen.

Was mir Sorgen macht, ist, ob die aktuelle Regierung die Ergebnisse akzeptieren wird. Sie haben eigene Umfragen in Auftrag gegeben, die 60 Prozent für den Georgischen Traum vorhersagen. Ich glaube jedoch, dass sie verlieren werden. Aber wir werden wahrscheinlich vor dem Parlament stehen und die Wahlergebnisse verteidigen müssen. Es könnte zu Demonstrationen kommen, vielleicht wird es blutig.

Was möchtest du unseren Leser:innen noch sagen? Warum sollte man in Deutschland bzw. in der EU Interesse an der Parlamentswahl in Georgien und an dem Land haben? 

Ich wünsche mir, dass westeuropäische Länder wie Deutschland mehr auf Georgien achten. Wir kämpfen hier für europäische Werte – vielleicht sogar mehr als viele Europäer:innen, weil diese für uns nicht selbstverständlich sind. Wir müssen aktiv für Freiheiten und Fortschritt kämpfen. Und wir tragen die EU-Flagge mit großem Stolz, was uns in mancher Hinsicht von vielen Westeuropäer:innen unterscheidet.

Westeuropa sollte sich wieder mehr an seine Werte erinnern und an Länder wie Georgien glauben. Wir haben das Gefühl, dass die Sowjetunion uns von der europäischen Integration abgehalten hat, da unsere erste Republik ein progressives, europäisches Land war. Jetzt versuchen wir, zu diesen Wurzeln zurückzukehren.

Deshalb: Achtet auf uns, informiert euch über uns, besucht Georgien und fordert eure Regierungen auf, uns weiterhin zu unterstützen. Wenn Russland seinen Einfluss auf Länder wie uns ausweitet, wird es irgendwann auch Westeuropa erreichen. In Georgien entscheidet sich, meiner Meinung nach, die Zukunft der europäischen Politik.

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