Am 15. März 2025 versammelten sich in Belgrad Hunderttausende Menschen zur größten Demonstration, die das Land je gesehen hat. Die Proteste in Serbien richten sich gegen Korruption, Machtmissbrauch und die politische Führung unter Präsident Aleksandar Vučić. Während deutsche Medien von „zehntausenden“ Teilnehmenden berichten, sprechen andere Quellen von rund 800.000 Demonstrierenden – eine Zahl, die angesichts der rund sieben Millionen Einwohner*innen Serbiens und der etwa 1,4 Millionen Einwohner*innen Belgrads eine gewaltige Mobilisierung darstellt.
Die Proteste in Serbien gelten als historischer Moment für das Land, in dem sich viele Menschen für politische Veränderung und ein gerechteres System einsetzen. Doch sie sind nicht unumstritten. Während die Bewegung sich auf den Kampf gegen Korruption konzentriert, bleiben andere tief verwurzelte gesellschaftliche Fragen – etwa Nationalismus, Rassismus oder die Aufarbeitung von Kriegsverbrechen – weitgehend ausgeklammert. Kritiker*innen bemängeln, dass sich die Organisator*innen nicht klar genug von ultranationalistischen Gruppierungen und Kriegsveteranen distanzieren, die an den Protesten teilgenommen haben. Die Verwendung der umstrittenen Karte Serbiens mit dem Kosovo als Teil des Landes sowie das Auftreten nationalistischer Symbole sorgen für Diskussionen über die politische Ausrichtung der Bewegung.
Gleichzeitig gibt es Berichte, dass die Gegenproteste, die zeitgleich vor dem serbischen Parlament stattfanden, von der Regierung organisiert und finanziert wurden. Diese Lagerkämpfe unterstreichen die politischen Spannungen, die das Land weiterhin prägen.
In diesem komplexen Kontext bleibt eine eindeutige Einordnung der Proteste schwierig. Fest steht jedoch, dass die Proteste in Serbien für viele Menschen einen Moment der Hoffnung und des Aufbruchs darstellen. Mit einer Demonstrantin haben wir über die Stimmung im Land und ihre Wahrnehmung während der Großdemonstration gesprochen.
Jovana, Kannst du beschreiben, wie die Atmosphäre im Land in den letzten Monaten war, seitdem die Überdachung in Novi Sad eingestürzt ist?
Die Atmosphäre im Land war in den letzten Monaten äußerst angespannt. Die Unzufriedenheit vieler Menschen – ausgelöst durch die anhaltende Untätigkeit der Institutionen, Korruption in den höchsten Regierungskreisen, den Verkauf von Staatsland, Wasserquellen und Bodenschätzen an ausländische Investoren sowie Umweltprobleme – hat sich nach dem Einsturz der Überdachung und dem Tod von 15 Menschen (ein 19-Jähriges Opfer erlag am 21. März an seinen Verletzungen, die Opferzahl steigt damit auf 16, Anm. d. Red.) am Bahnhof von Novi Sad im November letzten Jahres zugespitzt.
Im Dezember begannen die Studierenden mit friedlichen Protesten und stellten vier Forderungen. Aus meiner Sicht unterstützt die Mehrheit der Bevölkerung diese Forderungen. Alle staatlichen Universitäten sind seit Monaten komplett blockiert, ebenso wie die meisten weiterführenden Schulen. Die Studierenden und Schüler*innen haben die volle Unterstützung ihrer Lehrkräfte, von denen sich viele ebenfalls im Streik befinden.
Kleinere und größere Proteste finden nahezu täglich im ganzen Land vor verschiedenen staatlichen Institutionen statt. Die Menschen fordern Verantwortung von der Regierung, Sicherheit und die strafrechtliche Verfolgung der Verantwortlichen für diese schreckliche Tragödie, die direkt durch die zuvor genannten Probleme und die Korruption in der politischen Führung Serbiens verursacht wurde. Auch der öffentliche Rundfunk steht in der Kritik, da er seit Jahren keine vollständigen und korrekten Informationen liefert – und das ist auch jetzt während der Studierendenproteste nicht anders.
Wie hast du dich gefühlt, als du an dem Protest teilgenommen hast, der von vielen als der größte in der Geschichte Serbiens beschrieben wird?
Das Gefühl beim Protest in Belgrad am 15. März war fantastisch – die Menschen waren wachgerüttelt, voller Energie, lächelnd, mit freiheitlichem Geist und der Hoffnung auf eine bessere Zukunft. Die Anzahl der Menschen, die alle Hauptstraßen der Stadt füllten, mit den kreativsten Transparenten, der Lärm, der erzeugt wurde, sowie die 15-minütige Schweigeminute für die 15 Opfer der Tragödie trugen zu einem unvergesslichen und historischen Tag in Belgrad bei.
Leider wurde diese Schweigeminute diesmal in der elften Minute durch ein unschönes Ereignis unterbrochen, das von der Regierung ausgelöst wurde.
Ich möchte auch betonen, dass Studierende bereits Tage vor dem Protest aus verschiedenen Teilen des Landes zu Fuß nach Belgrad marschiert sind – viele von ihnen mehr als 100 Kilometer. Auf ihrem Weg kamen sie durch viele kleinere Städte und Dörfer in Serbien und wurden überall wie Befreier empfangen. Die Menschen erwarteten sie mit reichlich Essen, Getränken, Schlafausrüstung, Umarmungen und Freudentränen.
Diese Bilder der Solidarität – von Landwirt*innen bis hin zur intellektuellen Elite – werden für immer in uns eingebrannt bleiben. Einen Tag vor dem Protest versammelten sich Tausende von Menschen im Zentrum von Belgrad, um die Studierenden zu empfangen. Es war ein wahrhaft spektakulärer Empfang, der bis spät in die Nacht andauerte.
Es gibt viele Videos im Internet, auf denen zu sehen ist, wie sich große Menschenmengen unter lautem Dröhnen zerstreuen. Hast du das selbst erlebt? Wenn ja, kannst du mir beschreiben, wie das war?
Ich habe dieses Ereignis nicht persönlich gesehen, da ich mich weiter entfernt von dem Ort befand, an dem es geschah. Von meiner Position aus konnte ich hören, wie die 15-minütige Schweigeminute unterbrochen wurde – durch ein lautes Geräusch, das laut Zeug*innen wie das Dröhnen eines Flugzeugs klang.
Es gab allgemeine Empörung unter den Versammelten, da die Gedenkminute bereits in der elften Minute gestört wurde. Später erfuhren wir, dass einige akustische Wellen eingesetzt wurden, um Lärm zu erzeugen und das Schweigen zu brechen. Laut den Aussagen von Menschen, die sich in diesem Bereich befanden, hatten einige ernsthafte Folgen wie Hörschäden, Schwindel, Desorientierung und ähnliche Beschwerden.
Wie fühlst du dich nach dem Protest? Was sind deine Hoffnungen für die Zukunft Serbiens?
Ich habe das Gefühl, dass dies erst der Anfang eines langwierigen Kampfes für eine bessere Zukunft unserer Studierenden, unserer Kinder, der Intellektuellen und all jener ist, die Gerechtigkeit und ein friedliches, würdevolles und kultiviertes Leben in einem europäischen Serbien wollen.
Ich bin froh, dass die Studierenden diese Welle des Erwachens in der serbischen Gesellschaft ausgelöst haben, denn wir alle waren kollektiv lange Zeit im Tiefschlaf. Es scheint, als könne diese Lawine nun von nichts mehr aufgehalten werden.
Jovana kommt aus Belgrad und ist Verkehrsingenieurin.
Mehr zu internationalen Demonstrationen gibt es zum Beispiel hier.
… leider wird erst in vier Jahren wieder der Präsident gewählt. 🙁