Der Bundeskanzler Olaf Scholz auf einem roten Cover, dabei „Wir müssen endlich im großen Stil abschieben“ – das Spiegeltitelbild ging letztes Jahr durch die (sozialen) Medien: Hier wird ganz klar ein rechtes Narrativ bedient – von oberster Stelle. Warum wird’s trotzdem gemacht? Weil es funktioniert. Leider. Öffentlich rechtliche Medien und qualitativ hochwertige Berichterstattung sind für eine Demokratie unerlässlich. Sogar so sehr, dass sie fälschlicherweise häufig als „vierte Gewalt“ bezeichnet werden. Und während sie keine offizielle Staatsgewalt sind – sondern in Deutschland im Gegenteil gänzlich unabhängig von ihr – nehmen sie dennoch eine wichtige Kontrollfunktion ein. Sie berichten über das Tagesgeschehen, nehmen Politiker:innen in die Verantwortung und recherchieren und analyiseren im Idealfall tiefgreifend und decken Missstände auf. Soweit die Theorie. Denn in der Praxis zeigt sich, dass deutsche Qualitätsmedien gravierende Probleme haben. Wir würden argumentieren: Das unrühmliche Spiegel-Cover ist ein klassisches Symptom dieser Probleme. Weshalb wir Journalismus neu denken müssen, damit er seiner wichtigen demokratischen Funktion nachkommen kann.
1. False Balance und Bothsideism verzerren die Realität
Ein großes Problem in der heutigen Berichterstattung ist die sogenannte „False Balance“, auch bekannt als „Bothsideism“. Hierbei wird der Versuch unternommen, beide Seiten eines Themas gleichwertig darzustellen, auch wenn eine Seite wissenschaftlich fundiert und die andere rein ideologisch ist. Dies zeigt sich besonders in der Klimadebatte, bei der wissenschaftlicher Konsens und Klimawandelleugner nicht selten gegenübergestellt werden und eine Person dort gegen eine andere argumentieren soll. Diese Form der Berichterstattung führt zu einer verzerrten Wahrnehmung der Realität. Journalist:innen müssen ausgewogen berichten – das heißt aber eben nicht, dass jede Position zu genau 50 Prozent abgebildet sein muss. Insbesondere dann nicht, wenn eine Position wissenschaftlicher Konsens ist und die andere nur eine unbelegte Gegenmeinung.
2. „Churnalism“ und der Zeitdruck im digitalen Zeitalter
„Churnalism“ bezeichnet den Trend, dass Journalist:innen Pressemitteilungen und vorgefertigte Inhalte von Unternehmen oder Behörden nahezu unverändert übernehmen, ohne diese kritisch zu hinterfragen. Eigentlich müssten Journalist:innen entweder mit Meldungen aus Nachrichtenagenturen arbeiten, oder mindestens zwei unabhängige Quellen verifizieren, bevor sie sie zitieren. Diese Praxis der doppelten Absicherung fällt aber häufig dem enormen Zeitdruck zum Opfer, den das Internet und die Rund-um-die-Uhr-Nachrichtenzyklen erzeugen. Besonders gern werden Pressemitteilungen der Polizei übernommen – obwohl diese eigentlich nicht als ausschließliche Quelle qualifizieren. Hier müsste eine zweite Quelle gefunden oder die Meldung einer Nachrichtenagentur abgewartet werden. Das schadet der Glaubwürdigkeit und sorgt dafür, dass öffentliche Institutionen und Interessenvertreter:innen die Berichterstattung stärker kontrollieren können. Der Qualitätsjournalismus leidet, da der Fokus zunehmend auf Geschwindigkeit und weniger auf Tiefe und Genauigkeit gelegt wird. Hier anzusetzen und Journalismus neu zu denken und zu gestalten, ist enorm wichtig.
3. Clickbait: Jeder Klick zählt
Die zunehmende Bedeutung von Klicks und Views in der digitalen Medienwelt hat zur Verbreitung von Clickbait geführt – reißerische Überschriften, die oft nicht das tatsächliche Thema des Artikels widerspiegeln. Während Clickbait-Überschriften zwar kurzfristig zu mehr Klicks führen, untergraben sie jedoch langfristig das Vertrauen der Leser:innen in das Medium. Clickbait ist wohl das am Weitesten bekannte Phänomen in dieser Ausführung, aber eben auch eines, dem beinahe alle Medien verfallen. Auch hier ist, wie so oft, das Geld das Problem. Klicks sind Geld – je mehr, desto mehr.
4. Die wachsende Kluft zwischen „Deep Journalism“ und „Free Content“
Während frei zugängliche Artikel mit Clickbait angepriesen werden müssen, um rentabel zu sein, werden tief recherchierte Berichte und fundierte Analysen immer häufiger hinter teuren Paywalls versteckt. Plattformen wie Table Media mit ihren spezialisierten Newslettern bieten oft hochwertigen „Deep Journalism“ an – allerdings nur einem exklusiven Fachpublikum. Der allgemeine Zugang zu wichtigem Wissen wird damit eingeschränkt. Diese Entwicklung verstärkt die Informationskluft in der Gesellschaft und fördert die Polarisierung, da die meisten Menschen auf frei verfügbare Inhalte angewiesen sind. Ein funktionierender Journalismus muss für alle zugänglich und gleichzeitig qualitativ hochwertig sein, um eine informierte Öffentlichkeit zu gewährleisten.
5. Kontextualisierung und Nuancierung gegen rechte Dominanz im Netz
In einer Zeit, in der politische Inhalte im Internet, insbesondere in den sozialen Medien, von rechten Bewegungen dominiert werden, versäumen es viele Medien, eine kontextualisierte und nuancierte Berichterstattung zu liefern. Rechtsextreme Desinformationsseiten erhalten dieser Tage überproportional viel Aufmerksamkeit. Die dort verbreiteten Narrative bleiben häufig unwidersprochen. Guter Journalismus muss eine kritische Gegenstimme liefern, die fundierte Analysen und gut recherchierte Fakten präsentiert und wiederholt, um dem entgegenzuwirken. Das Wiederkäuen rechter Positionen à la „Wir müssen mehr abschieben“, erreicht hier das Gegenteil und ist somit Teil des Problems. Auch gegen Desinformation durch KI, die zunehmen wird, braucht es dringend kluge Strategien.
6. Die Rolle von Algorithmen und Filterblasen
Algorithmen tragen maßgeblich dazu bei, wie Informationen verbreitet und rezipiert werden. Journalismus, der nur noch auf die Bedürfnisse der Algorithmen reagiert, verliert an Tiefe und Varianz. Mit riesigen Reichweiten ihrer Internetauftritte haben etablierte Medien eigentlich die Möglichkeiten, auch aus Filterblasen herauszukommen. Zumindest dann, wenn sie klug, modern und faktenbasiert arbeiten. Hier müssen sie dringend neue Wege finden zu kommunizieren.
7. Verpasste Chancen: Der Journalismus nutzt digitale Möglichkeiten nicht voll aus
Punkt 6 ist deshalb vielleicht so schwierig zu erreichen, weil viele traditionelle Medienhäuser sich schwer tun, das digitale Zeitalter vollständig zu nutzen. Viele verharren in den Strukturen der Print-Ära. Obwohl der Großteil des Inhalts heute online veröffentlicht wird, werden oft nur die gleichen Formate wie im Print genutzt: lange Texte, die sich durch statische Absätze und einfache Stockbilder auszeichnen. Dabei bieten digitale Plattformen weitreichende Möglichkeiten, Inhalte interaktiver, dynamischer und multimedialer zu gestalten.
Durch den Einsatz von Datenjournalismus, interaktiven Grafiken und Videoformaten könnten Medien Leser:innen zurückgewinnen. Beispielsweise könnten komplexe politische Themen durch interaktive Karten und Diagramme veranschaulicht werden, um Zusammenhänge besser zu verstehen. Lesende suchen bereits nach multimedialen und interaktiven Formaten, die die traditionellen Text-Artikel ergänzen.
Auch hier sind Strukturen und Ressourcen Schuld am Dilemma. Elitäre Zugangsbeschränkungen und alternde Führungsstäbe verhindern eine Meinungsvielfalt in Redaktionen und kreative Neuerungen.
Wir müssen Journalismus neu denken
Gerade in den Zeiten von Desinformation braucht es klugen und progressiven Journalismus, statt ein Verharren in veralteten Strukturen und Praktiken. Um dies zu erreichen, braucht es ein neues Verständnis von journalistischer Verantwortung – einen Journalismus, der kontextualisiert, faktenbasiert und für alle zugänglich ist. Das Ziel sollte sein, den Spagat zwischen schneller, digitaler Berichterstattung und tiefgehender Recherche zu meistern – und das auf eine Weise, die der Öffentlichkeit dient.
Mehr zu Medien auch hier.