Der Stadtteil Pirna-Sonnenstein erscheint wie ein Klischee: Sanierungsbedürftige Plattenbauten, eine starke AfD, wenig Infrastruktur aber mit Blick auf die Sächsische Schweiz. Historisch ist das Viertel schwer geprägt: von der NS-Tötungsanstalt über DDR-Industrie bis zum Strukturabbau nach der Wende. Heute leben hier vor allem Menschen aus sozioökonomisch schwächer gestellten Gruppen, viele mit Migrationserfahrungen. Hinzu kommt die Überalterung der Bevölkerung. Das Image ist schlecht, die Menschen erleben Stigmatisierung und Diskriminierung.
Hier wäre es leicht wieder einmal zu sagen: „So ist es eben im Osten.“. Nächstes Thema. Doch heute zeigt sich ein anderer Sonnenstein. Menschen unterschiedlichen Alters und Herkunft kommen zusammen, weil ihnen ihr Viertel nicht egal ist. Sie reden, lachen, packen an und sammeln gemeinsam Müll ein. Die Aktion Sauberer Sonnenstein macht sichtbar, dass Engagement für Teilhabe und Gerechtigkeit nicht immer laute Demos braucht. Manchmal geht es einfach um Mitmachen, einander zuhören und Verantwortung für den gemeinsamen Lebensraum zu übernehmen. Kurz gesagt darum, Nachbarschaft und Demokratie zu leben.
Der Verein Sonnige Aussichten Pirna organisiert solche Begegnungen regelmäßig. Zusammen schaffen sie Räume, in denen sich Menschen über Ausgrenzung und Stigmatisierung hinaus begegnen können. Mit Naeema, Valerie und Adrian habe ich darüber gesprochen, wie man in einer Stadt mit rechtem Stadtrat gemeinsam für eine solidarische Nachbarschaft aktiv wird und warum genau solche Initiativen ein wichtiges Standbein für Demokratie und Vielfalt sind.
Müllsammeln klingt erstmal nicht nach einer besonders einladenden Aktion, trotzdem kommen heute viele Menschen zusammen. Wie schafft ihr es, die Menschen zu motivieren und was wollt ihr damit erreichen?
Sonnige Aussichten e.V.: Auf dem Sonnenstein wohnen viele Leute aus unterschiedlichen Ländern, und auch in unserem Verein sind inzwischen rund zehn Nationalitäten vertreten. Der Verein Sonnige Aussichten ist aus einem Zusammenschluss verschiedener Gruppen entstanden, mit dem Ziel, die Zusammenarbeit in der Nachbarschaft zu fördern und zu zeigen, wie schön es hier ist. Es ist nicht weit zum Supermarkt, zur Schule oder in die Natur. Von den Hochhäusern aus sieht man die Sächsische Schweiz.


Viele ziehen trotzdem weg und sagen: „Hier ist doch nichts los“ oder „Hier ist alles nur braun versifft.“ Deshalb wollen wir Angebote schaffen, nicht für die braun versiffte, sondern für die bunte Gruppe. Wir möchten zeigen, dass es auf dem Sonnenstein lebenswert ist. Damit die Leute nicht in die Stadt ziehen und nur zurückbleibt, wer nicht weg kann. Im Verein leben wir Demokratie. Wir sind eine Gemeinschaft die zusammen neue Ideen entwickelt für ein schönes Zusammenleben und die Zukunft unserer Kinder. Es geht darum, nicht nur an sich zu denken sondern auch die anderen mitzudenken und Ideen zu stärken, was jede*r Einzelne für die Nachbarschaft tun kann.
Wie zeigt ihr den Menschen, was sie für ihre Nachbarschaft tun können und warum ist das so wichtig?
Sonnige Aussichten e.V.: Wir als Verein geben die Veranstaltungen nicht vor. Ein Großteil unserer Arbeit ist, unseren Mitgliedern oder Menschen, die mit Bedarfen auf uns zukommen, die Möglichkeit zu geben, eigene Ideen und Veranstaltungen umzusetzen. Das Repair Café, von unserem Mitglied Georg ist zum Beispiel entstanden, weil er es schade findet, dass viele Menschen ihre Sachen einfach wegwerfen. Er kann vieles reparieren und wollte das gerne anbieten. Als Privatperson ist so etwas aber schwierig dauerhaft umzusetzen.Der Verein schafft die Möglichkeit, eine Aktion oder regelmäßige Veranstaltung daraus zu machen.
Es geht um Basisdemokratie: selber anpacken, die eigene Umwelt gestalten und erleben, wie wichtig Demokratie ist. Das Projekt Sauberer Sonnenstein mit den Müllsammelaktionen, von denen heute eine stattfindet, ist ähnlich entstanden. Valeria hat es gestört, dass die Kinder auf dem Spielplatz ständig im Müll gespielt haben. Sie hat angefangen, den Müll zu sammeln. Erst alleine, dann mit anderen Eltern und jetzt mit der ganzen Nachbarschaft. Das ist schön!



Ansonsten ist unser Angebot vor allem interkulturell aufgebaut und alles ist kostenlos. Die Open Kitchen zum Beispiel ist ein interkultureller Kochkurs. Wir haben auch ein Sprach-Café, eine Fahrradwerkstatt, einen Schwimmkurs sowie einen Familiensportnachmittag zum Austoben und Kontakte knüpfen für jene, die nicht die Möglichkeit haben, in einen klassischen Sportverein einzutreten.
Und wie werdet ihr und euer Angebot von den Bewohner*innen im Sonnenstein angenommen?
Sonnige Aussichten e.V.: Das hängt stark von der jeweiligen Veranstaltung ab. Die Open Kitchen läuft zum Beispiel sehr gut. Da kommen manchmal bis zu 120 Menschen, so viele, dass sie gar nicht alle in den Raum passen. Wer genau kommt, ist immer unterschiedlich. Wenn wir eine venezolanische Open Kitchen machen, sind viele Venezolaner*innen aus der Umgebung da, die uns vorher vielleicht gar nicht kannten, aber sie kommen, weil sie das Thema anspricht.
Bei den regelmäßigen Angeboten ist es eher eine feste Gruppe an Menschen, die vorbeikommt, mit denen man dann ein sehr intensives Verhältnis aufbauen kann. Aber egal, wer kommt: Die Menschen sind begeistert, sagen uns, wie toll sie es finden und dass sie wiederkommen und mitmachen wollen. Das ist nicht immer so gegeben, dass sich die Leute aus dem Hochhaus raustrauen. Viele meckern erst mal, dass hier nichts los und es einsam ist. Deswegen freuen wir uns über alle, die unser Angebot annehmen und merken, wie schön es ist, sich nach der Schule oder Arbeit hier zu treffen und zusammen etwas zu tun. Wir hoffen, dass wir damit dazu beitragen, dass es attraktiver ist zu bleiben und alle sich angesprochen fühlen gemeinsam unsere Umgebung mitzugestalten.
Ein Grund für viele wegzuziehen ist sicherlich auch, dass die AfD deutschlandweit und in Sachsen immer stärker wird. In Pirna habt ihr sogar einen Bürgermeister, der zwar parteilos, aber mit der AfD assoziiert ist. Was bedeutet das für eure Arbeit, die sich für interkulturelle Nachbarschaft und Demokratie einsetzt?
Sonnige Aussichten e.V.: In Pirna wird viel über den Oberbürgermeister gesprochen. Für viele Entscheidungen ist aber der Stadtrat zentral, der ebenfalls ein starkes und lautes rechtes Lager hat. Unsere Veranstaltungen sind erstmal relativ unpolitisch. Müllsammeln und Kochabende haben zunächst mit Parteipolitik nichts zu tun. Wir wissen Politik ist zwar Teil von uns, denn ohne Politik keine Nachbarschaft und Demokratie. Aber einige von uns mögen keine Politik oder ständig darüber zu reden, es ist überall das Gleiche. Als Nachbarschaftsverein werden wir vom Stadtrat weniger kritisch betrachtet, als eine politische Organisation. Ein Name wie Sonnige Aussichten e.V. funktioniert da auch gut. Der Stadtrat hat z. B. genehmigt, dass wir den Park, der zu Gemeinschaftsgärten umgebaut werden soll, betreuen dürfen. Die AG Asylsuchende hätte da Probleme, einfach weil der Begriff Asyl im Namen steht. Man muss die Kniffe kennen, um auf politischer Ebene durchzukommen. Von der Stadt bekommen wir trotzdem kaum Unterstützung.
Ist es eine bewusste Entscheidung, euch „unpolitisch“ zu geben, obwohl Engagement für Nachbarschaft und Gemeinschaft ja durchaus politisch ist?
Sonnige Aussichten e.V.: Bei dem Thema bekommen wir häufig Kopfschmerzen. Ja, auf eine Weise ist es politisch, gleichzeitig versuchen wir, es unpolitisch zu formulieren. Sonst müssen wir uns wirklich Gedanken machen, wie wir von anderen wahrgenommen werden und was dann passiert. Das politische Klima in Sachsen ist wahnsinnig gespalten, sodass man sich, ob man will oder nicht, diese Gedanken machen muss. Förderungen, die anderswo absolut möglich wären, sind hier schwierig. Da sind wir wieder beim Thema Basisdemokratie. Wir müssen selber anpacken, weil wir auf städtische Unterstützung nicht im großen Sinne zählen können. Das ist die Realität, in der wir stecken.



Ist das auch eure persönliche Motivation, euch ehrenamtlich zu engagieren?
Sonnige Aussichten e.V.: Jede*r von uns hat eigene Gründe, im Verein aktiv zu sein: persönlicher Verlust, das Interesse an Naturschutz oder der Neustart als Zugezogener. Was uns verbindet, ist, dass Sonnige Aussichten uns zusammengebracht hat und uns Halt gibt. Wir sind wie eine Familie, kennen einander gut und unterstützen uns. Dabei merken wir immer wieder, wie viele Ideen es gibt, Nachbarschaft zu beleben und einander auch ganz praktisch zu helfen.
Viele von uns sprechen Deutsch nicht als Muttersprache oder haben wenig Erfahrung mit deutschen Regelungen. Am Anfang hat uns deshalb die AG Asylsuchende beim Schreiben von Förderanträgen unterstützt. Ohne diese Hilfe wäre vieles nicht möglich gewesen. Gleichzeitig leben wir in einer Stadt, in der es viele Orte gibt, die in der rechten Szene verankert sind. Besonders auf dem Sonnenstein ist die rechte Szene präsent und nimmt Räume ein. Umso wichtiger ist es uns, ein buntes und interkulturelles Leben in Pirna zu erhalten. Der Verein ist unser Weg, genau das zu schaffen. So sind wir ein gutes Beispiel für unsere Kinder und motivieren andere, selbst aktiv zu werden.


Habt ihr Erfahrungen mit Anfeindungen von der rechten Szene machen müssen?
Sonnige Aussichten e.V.: Wir hatten bisher Glück. Eigentlich wollen wir nur Gutes tun, zum Beispiel Müll sammeln oder Straßenfeste organisieren. Wir bringen Leben und Hoffnung in den Stadtteil rein. Das findet eigentlich niemand schlecht. Die lokalen Bewohner*innen haben vielleicht auch verstanden, dass wir keine Belastung für den Stadtteil sind. Trotzdem gab es ein paar wenige Vorfälle: Ein Plakat wurde beschädigt, gelegentlich kleben AfD-Sticker. Am krassesten war, als Adrian beim Pfandmarken-Einsammeln nett mit den Besuchenden des Sommerfestes gesprochen hat. Am Ende hatte eine Person statt eines Euros eine AfD-Münze in die Spendenbox geworfen. Solche subtilen Angriffe gab es bisher, zum Glück ohne persönliche Angriffe.
Wir versuchen, solche Vorfälle zu ignorieren. Über Security bei Straßenfesten haben wir nachgedacht, aber ob es das besser macht, wissen wir nicht. Die Erwartungshaltung, dass etwas passiert, animiert eventuell erst dazu. Das Klima ist schräg, aber wir bleiben hier, konzentrieren uns auf unsere Arbeit und die Gemeinschaft. Gute und schlechte Menschen gibt es überall. Das Problem mit der AfD ist mittlerweile überall spürbar, vielleicht hier etwas mehr, aber wir machen weiter.
Wie wollt ihr denn weitermachen, was habt ihr für die Zukunft von Nachbarschaft in Pirna geplant?
Sonnige Aussichten e.V.: Ideen, wie es weitergehen kann, gibt es viele. Im Moment beschäftigt uns vor allem, dass unser bisheriger Raum wegfällt, weil das Gebäude in ein Altenheim umgebaut wird. Um den Verein zu sichern und unsere Angebote aufrechterhalten zu können, wollen wir uns breiter vernetzen, zum einen, um von den Erfahrungen anderer Initiativen zu lernen, zum anderen überlegen wir, Kooperationen mit Firmen einzugehen, deren Räume freitags ohnehin leerstehen. So können wir auch unterstützen, dass deren Belegschaft nicht in rechte Milieus abrutscht.
Vor allem wünschen wir uns, dass die Menschen weiterhin zu unseren Veranstaltungen kommen. Dafür arbeiten wir auch an einem neuen Projekt: Geschichten vom Sonnenstein. Damit wollen wir sowohl die alteingesessenen Bewohner*innen aktivieren als auch die Neuzugezogenen erreichen. Gemeinsam soll sichtbar werden, wie sich der Stadtteil entwickelt und welche Hoffnungen, aber auch welche Ängste damit verbunden sind. Und natürlich freuen wir uns über neue Mitglieder und Projektideen. Jede*r bringt eigenes Know-how mit, und je mehr zusammenkommt, desto stärker wird unser Angebot. So entsteht ein stabiles Gesamtkonzept. Unser Verein ist wie ein Baum: Ohne den Stamm geht nichts, aber jeder Ast ist wichtig. Allein würde das nicht funktionieren. Wir brauchen die Gemeinschaft.


Der Müllsammeltag endet im Vereinsraum, wo sich schnell eine warme, lebendige Atmosphäre ausbreitet. Einige waren beim Müllsammeln dabei, andere kommen einfach nur zum Zusammensein. In der kleinen Küche wird selbst gebackener Kuchen aufgetischt, an einer langen Tafel sitzen Menschen zusammen, die sich sonst vermutlich nie kennengelernt hätten. Es wird gelacht, erzählt, geholfen und Freundschaften geschlossen. Jung und Alt, alteingesessen oder neu zugezogen hier sitzen alle an einem Tisch. Dass Sonnige Aussichten es in nur zwei Jahren erreicht hat, einen Ort zu schaffen, an dem die Menschen zusammenkommen und diese Gemeinschaft bilden können, ist nicht zu übersehen.
Eine junge Teilnehmerin mit Kind auf dem Arm sagt zu mir: „Ich mag die Gemeinschaft und vor allem sind die Angebote kostenlos. Sonst passiert hier leider nicht viel, deshalb bin ich bei fast jeder Veranstaltung.“ Ein Satz, der zeigt, wie wichtig ein vermeintlich unpolitischer Ort sein kann. Denn was hier entsteht, ist mehr als ein Nachbarschaftstreff: Es ist ein Stück gelebte Demokratie niedrigschwellig, herzlich, offen für alle.
Der Beitrag ist bei redaktioneller Unabhängigkeit mit der finanziellen Förderung von Zusammen für Demokratie entstanden. In dieser Reihe haben wir bisher beispielsweise auch diesen Beitrag publiziert.


