„Der Himmel ist blau“, so fängt das gleichnamige Lied der Ärzte an. Blau ist auch der erste Eindruck, den Gießen in den frühen Morgenstunden des 29.11.25 vermittelt – jedoch nicht im Sinne der Ärzte. Seit Beginn der vergangenen Woche werden in Gießen von der Polizei bereits Vorkehrungen getroffen, um die Neugründung der Jugend-Organisation der AfD, der Jungen Alternative, den Weg zu ebnen. Absperrungen teilen die Stadt, Mannschaftswagen blockieren Seitenstraßen, verbreiten eine bedrohlich-dystopische Stimmung mit blauem Sirenenlicht. Drohnen sind am Gründungtag bereits vor sechs Uhr rot-blau blinkend im Himmel über Gießen unterwegs. In scharfem Kontrast dazu die Grüppchen von Demonstrant*innen, die sich für Antifaschismus einsetzen.
Sie suchen sich ihre Wege zum Bahnhof und dem Beginn der Kundgebung um sechs Uhr. Bunte Schilder mit ebenso bunten Botschaften: „Gießen bleibt bunt – wir geben braun keinen Raum“. Lastenfahrräder mit heißem Tee im Gepäck und schwarz gekleidete Protestierende. Alle zusammen mit einem Ziel: Die Neugründung der AfD-Jugendorganisation in den Messehallen Gießens heute zu verhindern.

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Die rechtsextreme Junge Alternative
Bereits im April 2023 wurde die Jugendorganisation der AfD, Junge Alternative, vom Verfassungsschutz als gesichert rechtsextrem eingestuft. Anfang des Jahres distanzierte sich die AFD vom Jugendverband, obwohl dieser ein rechtlich von der Partei unabhängiger Verein gewesen ist. Beobachter*innen vermuten, die öffentliche Abgrenzung der AFD zur Jugendorganisation hatte einen wahlkampftaktischen Hintergrund. Ein mögliches Verbot der rechtsextremen Jugendorganisation hätte der AfD, die ihrerseits mit Forderungen nach einem Partei-Verbot konfrontiert war, weiter geschadet. Die AfD selbst gilt seit 2021 als rechtsextremistischer Verdachtsfall. Zuletzt wurde das 2024 bestätigt.
Die Zivilgesellschaft mobilisiert gegen die Neugründung – die Politik schützt die AfD
Die jetzige Neugründung in Gießen und die künftige offizielle Anbindung an die Partei soll dem Jugend-Verband einen offizielleren Anstrich verleihen. Und im konkreten Fall ein Verbotsverfahren erschweren. Das Bündnis widersetzen mobilisierte bereits seit Bekanntgabe des Veranstaltungsortes deutschlandweit nach Gießen. Es kündigte an, die Veranstaltung mit verschiedenen Aktionsformen zu stören und sie verhindern zu wollen. Als Reaktion darauf appellierte Gießens Oberbürgermeister Frank-Tilo Becher (SPD) an die Demokratie. Er bekräftigte den Beschluss der Stadt „allen offen zu begegnen“ – auch der AfD-Jugendorganisation.
Die Einrichtung einer Protestverbotszone in der Weststadt begründen Zuständige mit Sicherheitsaspekten, aus der „Angst vor Tumulten“. Und, wie Hessens Innenminister Roman Poseck (CDU) verlauten lies, wegen der Sorge vor „bürgerkriegsähnlichen Zuständen“. „Die Antifa“ wurde bereits im Voraus der Proteste als Feindbild stilisiert – während die Neugründung der AfD-Jugend als demokratischer Akt beschrieben wurde. Es findet eine gefährliche Verschiebung nach rechts durch Politiker*innen statt, wenn demokratische Proteste gegen eine demokratiefeindliche Organisation mit dem Appell an die Demokratie delegitimiert werden.
Gegen das Krawall-Narrativ
Die Bilder am Samstag, ebenso wie die Demonstrierenden, erzählen andere Geschichten. Karla Z., Auszubildende in der Pflege erzählt, dass rechte Hetze und Propaganda sie im Alltag stark belasten und ängstigen. In einem ihrer Ausbildungsbetriebe habe eine Person mit Migrationshintergrund keine Arbeitserlaubnis bekommen. Nach Monaten sei sie abrupt aus ihrem Alltag gerissen worden. Konkret bedeutet das für Betroffene keine legale Arbeitserlaubnis, Abhängigkeit von Sozialleistungen und keinen dauerhaften Aufenthaltstitel. Ein Leben in der Schwebe und in Abhängigkeit also. Das ist würdelos, sagt Karla.

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Und das ist es auch, was AfD-Politik anrichtet: Menschen ihre Würde zu nehmen. Karla steht mit anderen Demonstrierenden frühmorgens am 29.11. auf einer der Zufahrten zur Stadt. Dort wollen sie denen, die auf dem Weg zur AfD-Veranstaltung sind, mit ihren Körpern den Weg versperren. Es gibt ihr Hoffnung, vor Ort zu sein, zusammen mit Pfleger*innen, Studierenden und Omas gegen Rechts. Friedlich und mit Haltung. Viele der Protestierenden haben eine beschwerliche Anreise auf sich genommen, sind über Nacht in Bussen angereist und verharren nun auf kalten und dunklen Straßen.
Einer der größten Polizeieinsätze Hessens – wer schützt wen?
Immer in Sichtweite ist die Polizei: Mit einem Aufgebot von ca. 5000 Beamt*innen stellt der Polizeieinsatz einer der größten in der Geschichte Hessens dar. Er schützt mit staatlicher Legitimierung die Neugründung einer Organisation, die mit ihren Inhalten gegen die freiheitlich-demokratische Grundordnung verstößt. Jean-Pascal Hohm, neuer Vorsitzenderder „Generation Deutschland“, und alter Vorsitzender der „Jungen Alternative“, vertritt offen das Konzept der Remigration und unterscheidet anhand völkisch-biologistischer Klassifizierungen zwischen Staatsbürger*innen erster und zweiter Klasse.
Ihm wurde in der Vergangenheit zweimal die Zusammenarbeit mit der AfD-Partei gekündigt. Erstmalig als Mitarbeiter der Landtagsfraktion 2017, beim zweiten Mal als Mitarbeiter eines Bundestags-Abgeordneten 2019. Beide Male lautete die Begründung: Seine Verbindungen zur rechtsextremen Szene. Darunter fallen die Identitäre Bewegung, die Pegida-Schwester „Zukunft Heimat“ und das rechtsextremistische Aktionsbündnis „Ein Prozent„. Der Landesverfassungsschutz Brandenburg hat ihn bereits als rechtsextremistisch eingestuft. Die Neugründung der AFD-Jugendorganisation mit Hohm als alten und neuen Vorsitzenden zeigt, dass sich inhaltlich nichts ändern wird. Im Gegenteil: Mit ihm weiterhin an der Spitze und der nun offiziellen Anbindung an die AFD wird die rechtsextreme menschenfeindliche Programmatik noch nachdrücklicher legitimiert.
Proteste für Menschenwürde, Demokratie und Antifaschismus
Die Menschen, die an den Protesten in Gießen beteiligt sind, wollen deutlich machen, dass sie diesen demokratischen Affront nicht hinnehmen. Innerstädtisch finden angemeldete Demonstrationen und Kundgebungen statt, die Band Kraftclub hat sich kurzfristig für einen Auftritt angemeldet. Auf den Auffahrten zur Stadt und vor den Brücken, die zum Gründungsort der AfD-Organisation führen, sitzen Menschen und blockieren den Weg. Sie singen, schlafen und halten sich in den Armen, sie spielen Karten und lesen einander vor.



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Es sind ruhige Momente in unruhigen Zeiten, Momente der Verbundenheit und Solidarität. Momente, die medial und politisch nicht ins Bild Antifa(schismus) passen. Wenke R. ist Studentin und kommt ursprünglich aus Sachsen. Sie hat bereits in der Schule miterlebt, wie Hakenkreuze an Schultoiletten geschmiert wurden, aus diesen rechte Tätowierungen wurden und daraus schließlich AfD-Mitgliedschaften. Ihr fehlen linke Austauschräume auf dem Land, sowohl in der Schule als auch außerhalb. Vor dem Wochenende hat sie ein starkes Ohnmachtsgefühl verspürt. Vor Ort ist sie berührt, es gibt ihr Hoffnung und Mut Teil eines Protests zu sein, der bunt und vielfältig ist und Menschen nicht ausschließt.
Feindbild Antifaschismus?
Das öffentlich konstruierte Feindbild „Antifa“ lässt sich hier schwerlich finden, insbesondere, wenn die eigentliche Bedeutung des Begriffs im Vordergrund steht: Antifaschismus. Neben diesen ruhigen Momenten sind auch wütende Gesichter zu sehen, vereinzelt Pyrotechnik, es wird an Absperrungen gerüttelt. Statt einer voreiligen Verurteilung, wie diese bereits im Voraus stattgefunden hat und sich nun auch in der Berichterstattung über Ausschreitungen wiederfindet, sollten Medien und Politik fragen, warum diese offensive Wut über einen demokratischen Missstand so verurteilt wird.

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Parallel zu dieser Verurteilung findet der eigentliche Skandal statt: Die schleichende, leise Gewalt der Versammlung innerhalb der Messehallen, die mit einer Selbstverständlichkeit toleriert wird, die an Einverständnis grenzt. Die Bereitschaft über einzelne Organisationen und Generationen hinaus zusammenzurücken und sich auf verschiedene Protestformen einzulassen, unter anderem zivilen Ungehorsam, zeigt, dass die Demonstrierenden die Dringlichkeit der Lage erkennen. So vervielfältigt sich das Bild der – durch millionenschwere Hetzkampagnen verunglimpften – Antifa. Es ist der demokratische Auftrag für alle Mitglieder dieser Gesellschaft, daran zu arbeiten, dass sie wieder als das verstanden wird, was sie ist: Eine antifaschistische Grundhaltung, die sich durch alle Generationen und Schichten ziehen muss.
Es findet eine Werteverschiebung statt
Die Protestierenden machen an diesem Tag auf einen massiven demokratischen Missstand aufmerksam. Sie kennzeichnen die Veranstaltung der AfD-Jugend als das, was sie ist: Antidemokratisch und verfassungsfeindlich, sie setzen dort an, wo die Politik versagt – versagen möchte? Sie stören, weil sie es müssen.
Die Einschränkung des Versammlungsrechts, die Legitimierung massiver Polizeigewalt, das widersinnige / abstruse Stilisieren „der Antifa“ als demokratisches Feindbild, die es in dieser geeinten Form überhaupt nicht gibt, das sind Alarmsignale einer Gesellschaft, die sich bereits tief in antidemokratischen Prozessen befindet. Die, die Versammlungsverbote befürworten und links und rechts in altbekannter Hufeisen-Manier vergleichen müssen gefragt werden, warum sie die Blockaden der Protestierenden so verurteilen und der Neugründung einer Organisation, die als gesichert rechtsextrem gilt und antidemokratische Inhalte vertritt Raum und Schutz geben. Was für eine Haltung vertreten ein Friedrich Merz, ein Alexander Dobrindt, ein Roman Poseck, ein Frank-Tilo Becher?
Die Ärzte singen abschließend in „Der Himmel ist blau“: „Die Welt gehört dir, was wirst du mit ihr machen?“, und das ist die Frage, die sich alle, die den Protesten am Wochenende kritisch gegenüber standen noch dringlicher stellen sollten: Woher kommt diese Angst vor „der Antifa“? Denn feststeht, Antifaschismus ist eine demokratische Grundhaltung, kein Verbrechen.

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Fotos: Timo Krügener.



