Am Freitagmorgen zeigt sich vor dem Berliner Landesgericht ein ungewöhnliches Bild: Eine demonstrierende Horde von Friedrich-Merz-Doppelgängern. „Man wirft uns vor, der Wirtschaftsrat nehme einseitigen Einfluss. Dabei vertreten wir die Interessen zahlreicher Branchen: Kohle, Gas, Öl, Bau, Zement, Auto und Chemie. Vielfalt pur!“, erklärt einer der „Friedriche“. Der Aufzug, der den Anschein einer Demo hat, richtet sich gegen Luke Neite – seinerseits selbst CDU-Mitglied – , der mit Unterstützung von LobbyControl den CDU-Bundesvorstand sowie Friedrich Merz angeklagt hat. Es geht um den Vorstandssitz des sogenannten „Wirtschaftsrats der CDU“ – einer Interessenvertretung der Wirtschaft. Die ironisch inszenierte Aktion des WeiterSo! Kollektivs macht auf die Verstrickung zwischen CDU, „Wirtschaftsrat“ und Friedrich Merz Demokratieverständnis aufmerksam. „Das ‚C‘ in CDU steht für Corruption. Friedrich Merz – hauptberuflich Lobbyist und nebenberuflich Parteivorsitzender – beweist das heute eindrucksvoll. Als Parteichef ist er mit angeklagt. Die Verhandlung heute schwänzt er, deswegen sind wir stellvertretend hier“, erklärt Pressesprecherin Sam Beiras von WeiterSo! vor dem Landesgericht.
Die Klage wird vor dem Landgericht, wie zuvor auch im Parteischiedsgericht, aus formellen Gründen abgelehnt. Doch die Verhandlung gibt Einblick in das Demokratieverständnis einer Partei, die in Deutschland in den vergangenen Jahrzehnten länger regiert hat als jede andre. Es geht um den massiven Einfluss der (neoliberalen) Wirtschaftslobby, um Intransparenz und um mögliche Verstöße gegen demokratische Grundsätze: Denn wie demokratisch ist eine Volkspartei strukturiert, wenn ein Lobbyverband ohne Wahl, aber mit massivem Einfluss im Parteivorstand sitzt?
Der „Wirtschaftsrat“ – Ein Lobbyverband mit privilegiertem Zugang
Der Wirtschaftsrat der CDU e.V. betitelt sich selbst als die „Stimme der Sozialen Marktwirtschaft“, die sich seit 60 Jahren mit den Herausforderungen unserer Zeit auseinandersetzt. Eine Studie von LobbyControl aus dem Jahr 2020 zeigt jedoch, wie der „Wirtschaftsrat“ diese Herausforderungen interpretiert: Der Verband blockiert regelmäßig Klimaschutzmaßnahmen und positioniert sich gegen progressive Projekte wie das z.B. das Lieferkettengesetz.
Erfolge sind für den „Wirtschaftsrat“ die „Entschärfung des Klimaschutzplans 2050“ oder die Senkung des Arbeitslosenbeitrags. Anders als der Name vermuten lässt, ist der „Wirtschaftsrat“ kein Parteigremium, sondern ein Berufsverband. Dadurch profitiert er von Steuervorteilen und muss – anders als Parteigremien – seine Finanzmittel nicht offenlegen.
Trotzdem genießt der „Wirtschaftsrat“ eine bevorzugte Stellung innerhalb der CDU: Friedrich Merz war bis 2021 Vizepräsident, und die Präsidentin des Wirtschaftsrats, Astrid Hamker, hat als „Dauergast“ einen ständigen Sitz im Bundesparteivorstand – mit Rederecht und Zugang zu vertraulichen Informationen. Ein Privileg, das anderen gesellschaftlichen Gruppen verwehrt bleibt.
Das WeiterSo! Kollektiv, das hinter den Friedrich-Merz-Masken steckt, führte bereits 2021 eine Kampagne durch, in der es unter dem Namen „Zukunftsrat der CDU“ ebenfalls einen Sitz im Bundesparteivorstand forderte. „Damit haben wir aufgezeigt, wie einseitig dieser privilegierte Zugang ausschließlich auf Profitinteressen ausgerichtet ist. Junge Menschen, klimaengagierte Gruppen oder Initiativen für soziale Gerechtigkeit würden niemals vergleichbare Möglichkeiten erhalten“, erklärt ein Sam Beiras.
Der rechtswidrige Gaststatus von Astrid Hamker
Ein rechtliches Gutachten von LobbyControl sowie juristische Meinungen renommierter Parteienrechtler*innen wie Prof. Dr. Sophie Schöneberg bewerten diese Privilegien als rechtswidrig. Sie verstoßen gegen das Parteiengesetz und die CDU-Satzung, die verlangen, dass Vorstände aus gewählten Vertreterinnen bestehen müssen. Hamker hingegen wurde nie in den Vorstand gewählt. Anders gesagt: Ein Lobbyverband mit einseitiger Interessenvertretung sitzt rechtswidrig und ohne demokratische Legitimation im höchsten Entscheidungsgremium der CDU.
Die CDU ignoriert weiterhin die öffentliche Kritik – sowohl durch die Kampagne von WeiterSo! als auch durch Aktionen von LobbyControl – und lässt Hamker nach wie vor als ständigen Gast im Parteivorstand zu. Anfänglich wurde sie auf der CDU-Website sogar als Mitglied des Vorstands geführt. Doch nachdem die öffentliche Kritik lauter wurde, verschwand ihr Name von der Seite. Ein Eingeständnis dahingehend, dass die Position des „Wirtschaftsrats“ zumindest fragwürdig ist?
Da LobbyControl selbst nicht klageberechtigt ist, begann die Organisation, nach einem Parteimitglied zu suchen, das bereit wäre, den Bundesvorstand juristisch herauszufordern: Luke Neite.
Was motiviert, den eignen Vorstand zu verklagen?
Warum verklagt man den Vorstand der eigenen Partei? „Das ist eigentlich sehr simpel“, erklärt Luke Neite: „Die liberale Demokratie wird aktuell von allen Seiten unter Druck gesetzt, und ich bin mir unsicher, ob unser politisches System stabil genug ist, um diese Herausforderungen zu überleben.
Neite spricht von Wahlerfolgen rechtsextremer Parteien, die nicht nur Fremdenfeindlichkeit, sondern auch ein tiefes Misstrauen in demokratische Institutionen offenbaren. „Diese Entfremdung und der Populismus, den sie – Friedrich Merz – nähren, gefährden unsere freie Gesellschaft.“
Einseitige Interessenvertretung nährt dieses Misstrauen weiter. „Ich beobachte, wie Lobbyisten von Öl- und Gasunternehmen die Weltklimakonferenz und den Zusammenhalt für konsequenten Klimaschutz untergraben.“ Ähnliches beobachtet Neite in der CDU: „In unserer eigenen Partei unterwandert eine kleine Gruppe von Lobbyisten die Entscheidungsprozesse zugunsten von Unternehmensinteressen.“
Die rechtliche Herausforderung
Vor dem Parteischiedsgericht wurde die Klage bereits aus formalen Gründen abgelehnt, inhaltlich jedoch als „vertretbare Rechtsauffassung“ eingestuft. Auch vor dem Landesgericht scheiterte die Klage vergangenen Freitag an formalen Hürden, sodass eine inhaltliche Verhandlung nicht stattfand. Neite, der Kläger, sei als nicht-delegiertes Parteimitglied nicht klageberechtigt. „Ich als Person der Parteibasis bin nicht in der Lage, die Entscheidung des Vorstands, einen Lobbyverband als ständigen Gast zuzulassen, anzufechten“, kritisiert Neite und bringt damit das Kernproblem auf den Punkt. Sein Anwalt, Gunter Freiherr von Mirbach, ergänzt: „Wenn nur Delegierte diesen Zustand anklagen dürfen, dann bewegt sich der Vorstand faktisch in einem rechtsfreien Raum. Was bleibt einem Parteimitglied anderes übrig, als den Rechtsweg zu suchen?“
Christina Deckwirth von LobbyControl zeigt sich frustriert: „Es ist erschreckend, dass der Vorstand trotz rechtlicher Bedenken weitermachen kann und mit einem rechtswidrig zusammengesetzten Vorstand in den Bundeswahlkampf zieht, ohne dass es eine effektive Möglichkeit gibt, dagegen vorzugehen.“
Die Einflusssphären des „Wirtschaftsrat“
Der Einfluss des „Wirtschaftsrats“ innerhalb der CDU betrifft nicht nur die Partei selbst, sondern letztlich die gesamte Gesellschaft. Besonders brisant wird dies, wenn die CDU wieder in Regierungsverantwortung kommt. Sollte die CDU regieren, könnte der „Wirtschaftsrat“ nicht nur innerparteiliche Entscheidungsprozesse beeinflussen, sondern auch indirekt die Regierungsarbeit. Die einseitige Interessenvertretung des „Wirtschaftsrats“, die zugunsten von Profitinteressen gerichtet ist, wird dadurch besonders problematisch.
Wie kann sich eine Partei als Volkspartei bezeichnen und sich öffentlich für Demokratie aussprechen, während sie im eigenen Vorstand intransparent Lobbyinteressen Vorrang gewährt? In der öffentlichen Kommunikation hetzt die Partei oft gesellschaftliche Gruppen gegeneinander auf und argumentiert mit Sparpolitik und einer vermeintlichen „Wirtschaftskrise“. Doch wie viele dieser Narrative stammen direkt oder indirekt aus dem Einflussbereich des „Wirtschaftsrats“? Genau lässt sich dies nicht sagen, denn die Verstrickungen zwischen CDU und „Wirtschaftsrat“ sind so eng, dass oft unklar bleibt, ob Ideen aus den eigenen Reihen der Partei oder aus den Interessen des Berufsverbands stammen. LobbyControl verweist in einer Studie beispielhaft auf die Forderungen des „Wirtschaftsrats“ während der Corona-Krise. Der „Wirtschaftsrat“ setzte sich damals, wie heute, für den Erhalt bestehender Wirtschaftsstrukturen ein, lehnte zusätzliche Belastungen für Unternehmen strikt ab und forderte, die europäischen Klimaziele anders als geplant nicht zu verschärfen. Diese Position fand sich anschließend in einem Positionspapier der CDU wieder und wurde erst nach heftigen Protesten abgeschwächt.
Ein erster Schritt, aber nicht die Lösung
Neite warnt abschließend: „ die letzten Wahlen zeigen, wie viele Menschen sich von demokratischen Grundsätzen abwenden und rechte Parteien wählen, die diese Grundsätze missachten. Das ist verständlich, wenn Spitzenpolitiker mit Privatjets reisen, einseitige Profitinteressen in Vorständen geduldet werden und der Rest der Gesellschaft vor Ort zurückbleibt.“
Für den weiteren Klageweg bräuchte es jetzt ein delegiertes Parteimitglied. Aber es ginge auch anders: Friedrich Merz hätte als CDU-Vorsitzender die Macht, den „Wirtschaftsrat“ aus dem Parteivorstand zu werfen. Sogar die FDP, deren Nähe zu einseitigen Wirtschaftsinteressen oft zu Recht kritisiert wird, hat ihren „Liberalen Mittelstand“ aus dem Parteivorstand verbannt.
Die CDU steht vor einer klaren Entscheidung: Der Parteitag am 3. Februar 2025 bietet die Gelegenheit, den ständigen Gaststatus des „Wirtschaftsrats“ zu beenden. Ein Blick auf vergangene Korruptionsskandale und die Strategie der CDU, diese auszusitzen, lässt Zweifel daran aufkommen, dass dies Realität wird. Der Ausschluss des „Wirtschaftsrats“ würde das grundlegende Problem von einseitigem Lobbyismus in nicht lösen: Andere Einflussmöglichkeiten, wie etwa Parteispenden, bleiben bestehen. Allerdings unterliegen Spenden einer Offenlegungspflicht, die zumindest eine gewisse Transparenz schafft. Auch hier fällt die CDU aktuell auf: Seit dem Bruch der Ampelkoalition verzeichnet sie mit Abstand die höchsten Spendeneinnahmen. Häufig und mit höheren Summen als bei anderen Parteien taucht dabei die Deutsche Vermögensberatung AG (DVAG) auf. Eine Unternehmen, das vielfach für überteuerte Produkte, sektenähnliche Strukturen und Lobbyismus in der Kritik steht. Dennoch wäre der Ausschluss des „Wirtschaftsrats“ ein erster wichtiger Schritt in Richtung Transparenz und ausgewogene Interessenvertretung.
Vor dem Landgericht packen die Merz-Doubles ihre Masken weg – erfolgreich waren sie heute nicht. Doch ihre Forderung bleibt bestehen: Friedrich Merz soll den „Wirtschaftsrat“ aus dem Vorstand werfen. Solange das nicht geschieht, werden sie nicht müde, darauf Aufmerksam zu machen und weiter Druck auszuüben.