Alle Menschen können krank werden – theoretisch betrifft Gesundheit uns alle gleich. Doch in der medizinischen Praxis zeigt sich: Wer behandelt wird, wie ernst Beschwerden genommen werden und welche Therapie möglich ist, hängt oft von Geschlecht, Herkunft oder Identität ab. Samson Grzybek will das ändern – und hat deshalb 2021 Queermed Deutschland gegründet: eine gemeinnützige Organisation, die unter anderem ein Verzeichnis für sensibilisierte Ärzt:innen und Therapeut:innen anbietet. Ziel ist es, diskriminierungsfreie Behandlung zu ermöglichen – durch Sichtbarkeit, Empowerment und strukturelle Veränderung. Queermed listet inzwischen über 1.900 Empfehlungen aus der Community – gesammelt, bewertet und ergänzt von den Patient:innen selbst.
Ursprünglich aus Österreich stammend und auf LGBTQIA*-Praxen fokussiert, war für Samson schnell klar: Das reicht nicht. „Ich habe ja nicht nur diese eine Lebensrealität, ich kann queer sein und in einer Praxis trotzdem fettfeindlich angegangen oder diskriminiert werden, weil ich migrantisch bin“. – Intersektionalität – also das Zusammenwirken verschiedener Diskriminierungsformen wie Rassismus, Sexismus oder Klassismus – spielt bei Queermed nicht nur eine theoretische Rolle, sondern bestimmt konkret, welche Praxen aufgenommen werden und wie Sensibilität gedacht wird.
Queermed ist eng mit der Biografie von Samson Grzybek verknüpft. Der Weg in den Aktivismus führte über ein Archäologiestudium, ehrenamtliches Engagement – etwa die Begleitung polnischer Holocaust-Überlebender – und schließlich den Aufbau der Plattform: selbstständig, neben einem Job im Online-Marketing, ohne formale Vorkenntnisse. Der Impuls kam Anfang 2021 durch einen Instagram-Post zu Queermed Österreich. Nach einem Gespräch mit einem der Mitgründer war für Samson klar: Diese Idee braucht es auch in Deutschland – intersektionaler und niedrigschwelliger. „Ich habe viel ausprobiert, war in unterschiedlichen Kontexten aktiv, immer auf der Suche nach einem Ort, der sich wirklich sicher anfühlt“, erinnert sich Samson. Entscheidend war am Ende das Bedürfnis, etwas zu verändern – und einen Ort für diskriminierungssensible Gesundheitsversorgung zu schaffen.
Wir treffen Samson wenige Tage vor den Antidiskriminierungstagen in Berlin, bei denen auch Diskriminierung im Gesundheitswesen Gesprächsthema ist. Wir sprechen über Queermed Deutschland, notwendige Veränderungen in der Medizin, die Rolle künstlicher Intelligenz – und darüber, wie Gesundheit zunehmend zur Ware wird.
Warum sind nicht alle medizinischen Einrichtungen diskriminierungssensibel – was läuft da strukturell schief?
Samson: Das Grundproblem liegt in der Ausbildung. Medizin und Psychotherapie orientieren sich seit jeher an einem sehr engen Bild: weiß, cis, männlich, nichtbehindert, normschlank, hetero. Alles, was davon abweicht, kommt im Studium kaum vor.
In der Gendermedizin zeigt sich das besonders: Die Wirkung von Medikamenten oder auch Symptome bei Herzinfarkten unterscheiden sich je nach Hormonhaushalt – trotzdem wird das im Studium oft nicht gelehrt. Menschen mit einem überwiegend östrogenbasierten Hormonprofil erleben beispielsweise häufiger Symptome wie Übelkeit, Atemnot oder Schmerzen im Oberbauch – Anzeichen, die in klassischen Lehrmaterialien kaum vorkommen. Eine britische Studie zeigt, dass dadurch das Risiko einer Fehldiagnose mit bis zu 50% deutlich steigt.
Auch in der Dermatologie werden Hautkrankheiten fast ausschließlich auf heller Haut gezeigt – überwiegend basieren dermatologischen Lehrbuchbilder auf weißer Haut. Erkrankungen auf dunkler Haut werden oft zu spät oder gar nicht erkannt.
Warum diskriminierungssensible Medizin (noch) nicht selbstverständlich ist
- Hürden beim Berufseinstieg
Medizin und Psychotherapie sind Studiengänge mit hohem NC und teuren Ausbildungswegen. Die psychotherapeutische Zusatzausbildung kostet teils 20.000–30.000 Euro. Das schließt viele strukturell benachteiligte Menschen schon früh aus. - Fortbildung ohne Pflicht zur Vielfalt
Um ihre Approbation zu behalten, müssen Ärzt:innen und Therapeut:innen regelmäßig Fortbildungen besuchen – die Themen sind aber frei wählbar. Diskriminierungssensible Praxis ist selten Teil davon. - Medical Gaslighting
Diskriminierung zeigt sich auch in der Behandlung selbst. Unter „Medical Gaslighting“ versteht man, wenn Ärzt:innen Beschwerden marginalisierter Patient:innen herunterspielen oder nicht ernst nehmen. Betroffen sind besonders FLINTA* (Frauen, Lesben, inter, nicht-binäre, trans und agender Personen), nicht-weiße und behinderte Personen.
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Gibt es in deinen Augen weitere strukturelle Probleme im Gesundheitswesen, auf die du immer wieder stößt?
Samson: „Ein zentrales Problem ist die Kapitalisierung des Gesundheitswesens. Statt strukturelle Missstände zu beheben, setzen viele Start-ups auf sogenannte Innovationen – Apps oder digitale Tools, die nur deshalb funktionieren, weil das System kaputt ist. Sie lösen nichts, sie verwalten das Problem. Auch die Politik investiert lieber in Wirtschaft als in bedarfsgerechte Versorgung. Warum tut sich die Gesundheitsversorgung so schwer, mehr Kassensitze für Psychotherapeut*innen anzubieten? Wieso haben wir denn so eine schlechte Versorgung? Warum können wir denn nicht dafür sorgen, dass beispielsweise die Berufe von Ärzt*innen einfach attraktiver sind? In was für einer Gesellschaft wollen wir leben? Wollen wir in einer Gesellschaft leben, wo Leute kein Geld haben für bestimmte Gesundheitsversorgung, für bestimmte Lebensrealitäten?
Ich finde: Gesundheitsversorgung sollte nicht profitorientiert, sondern für alle zugänglich sein. Und es muss aufhören, dass man bestimmte Behandlungen nur bekommt, wenn man sie sich leisten kann – sei es beim Kinderwunsch, in der Schönheitschirurgie oder bei Zahnfüllungen.

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Welche Forderungen hast du an die neue Bundesregierung, speziell an die neue Gesundheitsministerin Nina Warken (CDU)?
Samson: Erstens: Alle Menschen in Deutschland haben ein Recht auf selbstbestimmte Gesundheitsversorgung – ganz egal, ob sie krankenversichert sind, Fluchterfahrungen haben oder nicht. Gesundheitsversorgung ist ein Menschenrecht. Und das bedeutet auch: Zugang zu Abtreibung, zu Transitionen. Diese ganze Verbindung zwischen Versorgung und Profit muss endlich aufhören.
Zweitens: Es braucht verpflichtende diskriminierungssensible Aus- und Weiterbildungen. Mediziner:innen müssen lernen, wie unterschiedlich Menschen sind – in ihren Körpern, ihren Lebensrealitäten, ihren Bedürfnissen. Klar, es gibt Unis wie Frankfurt am Main, die da schon was machen. Aber es kann nicht sein, dass das vom Goodwill einzelner abhängt – das muss bundesweit verpflichtend sein.
Und drittens: Digitale Lösungen dürfen nicht auf Kosten von Datenschutz und Teilhabe passieren. Die elektronische Patient:innenakte ist ein gutes Beispiel dafür, wie Digitalisierung schieflaufen kann. Fachfremde Leute brauchen keinen Zugang zu sensiblen Infos wie psychischen Diagnosen oder ob ich trans* bin. Wozu braucht eine Zahnärztin zu wissen, ob ich trans bin – vor allem, wenn ich ein gutes Passing habe und das für die Behandlung gar keine Rolle spielt? (Im trans* Kontext bedeutet „Passing“, dass eine Person so gelesen wird, dass sie einer binären Geschlechterkategorie zugeordnet wird – ohne als trans* oder nichtbinär sichtbar zu sein, Anm. d. Red.)
Gerade liest man öfter, dass Menschen künstliche Intelligenz wie ChatGPT zur Ergänzung oder sogar als Ersatz für Therapie nutzen. Wie siehst du das – gerade aus einer intersektionalen Perspektive?
Samson: Ich finde das sehr gefährlich. Denn KI basiert auf bestehenden Datensätzen – und die sind oft rassistisch, ableistisch, transfeindlich oder anderweitig diskriminierend. Was sie lernt, kommt aus einer Welt voller struktureller Ungleichheiten.
Ein Beispiel: Amazon hat mal eine KI im Bewerbungsverfahren eingesetzt. Sie hat systematisch Schwarze Menschen aussortiert – weil sie auf Trainingsdaten weißer Lebensläufe basierte.
Und auch im therapeutischen Kontext ist KI hochproblematisch. Sie versteht keine Lebensrealitäten – schon gar nicht, wenn Menschen mehrfach marginalisiert sind. Sie kann keine neuen Perspektiven schaffen, sondern reproduziert nur, was sie bereits kennt.
Natürlich gibt es KIs, die in akuten Krisen weiterverweisen – etwa bei Suchanfragen zu Suizid. Aber das ersetzt keine echte, diskriminierungssensible Begleitung. Klar, der Wunsch nach einer Art digitalen Gesprächspartner zeigt, wie groß die Lücken in unserem System sind. Aber KI heilt keine Ursachen – sie kaschiert Symptome.
Und genau das ist das Problem mit vielen Tech-Unternehmen im Gesundheitswesen:
Es geht ihnen nicht darum, strukturelle Probleme wie Diskriminierung, Klassismus oder kapitalistische Ungleichheit zu beheben – sondern darum, daraus Kapital zu schlagen. Diskriminierung muss für sie weiterbestehen – das ist ihr Geschäftsmodell. Denn echte Veränderung wäre schlecht fürs Geschäft.
Wo siehst du deine Arbeit mit Queermed in den nächsten Jahren?
Samson: Ich wünsche mir, dass sich in der Gesundheitsversorgung wirklich etwas verändert. Dass Praktizierende anfangen, sich auszutauschen, voneinander zu lernen – und dass Patient:innen als Expert:innen ihrer eigenen Lebensrealität anerkannt werden.
Wir brauchen keine symbolische Repräsentation mehr auf Fachtagen oder Insta-Kacheln – wir brauchen echte Veränderung. Eine unabhängige Beschwerdestelle, ein Ende der Kommerzialisierung, diskriminierungssensible Strukturen.
Mein Ansatz ist ja, dass Queermed irgendwann aufhören soll zu existieren, weil es Queermed nicht geben sollte – weil Gesundheitsversorgung endlich für alle funktioniert – unabhängig von Identität, Geldbeutel oder Pass.
Und ja, darüber hinaus wünsche ich mir, dass wir lernen, radikale Diversität auszuhalten. Dass wir nicht nur in unseren Bubbles bleiben, sondern einander zuhören. Ich muss nicht alles verstehen – aber ich kann akzeptieren, dass es andere Lebensrealitäten gibt. Das Verstehen kann dann später kommen.

und nicht zuletzt Gründer:in von Queermed Deutschland.