Die humanitäre Lage in Gaza ist nach wie vor katastrophal, die Versorgungslage desaströs, zu wenig Hilfsgüter kommen über die Grenzen. Immer häufiger wird von einem möglichen Genozid an den Palästinenser:innen gesprochen. Nach Angaben der Vereinten Nationen sind rund 1,9 Millionen Menschen der Bevölkerung in Gaza Binnenvertriebene – das entspricht 90 Prozent der Bevölkerung, schreibt das Auswärtige Amt. Gut 100.000 Menschen konnten Gaza in Richtung Ägypten aber verlassen, viele von ihnen durch medizinische Notevakuierungen. Weil sie dort jedoch keinen Fluchtstatus erhalten, sind die oftmals schwer traumatisierten Menschen auf sich gestellt. Mimi und Lisa der Berlin/Brandenburger NGO Wir packen’s an waren vor Ort, um mögliche Partner:innenorganisationen zu identifizieren, damit sie gemeinsam für die Geflüchteten aus Gaza humanitäre Hilfe leisten können.
Wie lange wart ihr in Ägypten?
Lisa: Wir waren zehn Tage in Kairo, aber Mimi war im August schonmal da. Jetzt lag der Fokus darauf, eine Hilfsorganisation zu besuchen und mit dieser eine gutes Beziehung aufzubauen. Wir haben uns angeschaut, wie die Organisationen vor Ort arbeiten, um im besten Fall mit einer Kooperation nach Hause zu kommen. Das haben wir auch geschafft. In dieser Hinsicht war es sehr erfolgreich. Wir haben uns beide davon überzeugen können, dass es eine richtig gute Kooperation ist.
Mimi: Die Menschen der Organisation kommen alle aus Gaza. Die NGO ist zwar in Kanada registriert, kommen aber nicht von dort. Sie sind aufgrund der akuten Notlage in Ägypten aktiv geworden. Sie haben auch überlegt, ob sie sich in Ägypten registrieren, aber das macht die Sache eventuell schwieriger als einfacher. Es kann schnell gehen, es kann aber auch aus bürokratischen Gründen ewig dauern.
Lisa: Der Hilfseinsatz war allgemein eine Situation, die ich so vorher noch nicht kannte. Meistens kommen die Volunteers der Organisationen, mit denen wir arbeiten, aus Europa und sind junge privilegierte Menschen. Jetzt waren die Volunteers erst im März oder April aus Gaza geflohen. Sie sind also erst seit Kurzem in Ägypten und haben alle noch Familie in Gaza. Sie wissen genau, was die Menschen in Ägypten brauchen und wie wir ihnen am besten helfen können. Natürlich gibt es ein Machtgefälle, wenn du die gebende Person bist, aber die Situation ist anders, wenn du vor Ort mit Leuten arbeitest, die selbst betroffen sind.
Wie helft ihr Geflüchteten aus Gaza in Kairo nun?
Lisa: Wir haben vor Ort Decken und Matratzen eingekauft und sie verteilt, weil viele in Wohnungen ohne Einrichtung leben. Die langfristige Unterstützung besteht jetzt aber in Geldern für 100 Lebensmittelpakete pro Monat, also 2.000 Euro. Ein Lebensmittelpaket unterstützt eine Familie für einen Monat mit Trockenlebensmitteln. Zusätzlich überweisen wir monatlich 600 Euro für drei Waisenfamilien, die Cash Aid von 200 Euro frei zur Verfügung gestellt bekommen, um sie für die wichtigsten Dinge zu verwenden.
Was könnt ihr von vor Ort berichten?
Mimi: Ich habe die Leute immer gefragt, was sie sich am meisten von uns wünschen. Sie haben immer gesagt “Redet darüber. Erzählt unsere Geschichten!” Einer von den Freiwilligen, mit denen wir zusammengearbeitet haben, hat mir vor drei Stunden geschrieben, dass in der Nacht 15 seiner Familienangehörigen getötet worden sind. Das ist die Realität der meisten Menschen.
Lisa: Er hat vorhin auch geschrieben, dass heute vor einem Jahr bereits zehn seiner Familienmitglieder an einem Tag gestorben sind.
Furchtbar! Das tut mir leid.
Mimi: Mit jeder weiteren Person, die du kennenlernst, trifft es einen emotional einfach immer noch tiefer. Ich war in einem Altersheim, um dort einen Mann zu besuchen, den wir vermittelt bekommen haben. Er hatte ein verletztes Bein. Während wir ihm helfen wollten, machte er uns darauf aufmerksam, dass noch weitere Menschen dort in diesem Haus lebten. Es waren Menschen, die in Kairo zuerst im Krankenhaus behandelt, dann umgesetzt wurden und seitdem in diesem Haus leben. Ein unfassbar tristes Haus, kein Altersheim wie wir es von hier kennen. Es ist verlassen, es gibt kein Pflegepersonal. Jeweils zwei Zimmer teilen sich ein Bad und ein Stockwerk eine Küche.
Der Mann hat ganz oben in dem Haus gewohnt. Die Matratze lag auf dem Boden. Weil es unglaublich heiß war, haben einige Menschen auf dem Dach im Freien geschlafen. Man konnte von dem Dach runtergucken auf einen Sportclub mit mehreren Schwimmbecken, wo Menschen schwammen. Die Bewohner des Hauses erzählten mir, selbst wenn sie das Geld hätten, können sie dort wahrscheinlich niemals hin, denn es ist nur für Ägypter. Für die Menschen ist das leere, heruntergekommene Haus weder ein zu Hause, noch ein Ort der Sicherheit. Der Mann lebte mit Leuten, die Verletzungen hatten, die teilweise gar keine Papiere besaßen, weil sie eines Tages auf einmal in Ägypten einfach aufwachten. Sie wussten gar nicht, wann sie wie aus Gaza rausgebracht worden sind.
Das ist, weil sie medizinisch evakuiert worden sind? Wie läuft das ab?
Mimi: Das läuft wahrscheinlich über die Gesundheitsbehörde oder das Gesundheitsamt und die politische Kommunikation zwischen Ägypten und Gaza. CADUS ist zum Beispiel eine NGO, die vor Ort ist und medizinische Evakuierungen durchführt. Als es noch ging, haben sie dort Leute herausgeholt.
Lisa: Wir haben in Kairo viele Menschen getroffen, die durch eine medizinische Evakuierung aus Gaza gekommen waren. Sie kamen in Kairo dann erst mal ins Krankenhaus für ihre Behandlung. Sobald die Menschen aber aus dem Krankenhaus entlassen werden, sind sie komplett auf sich allein gestellt. Die Geflüchteten aus Gaza erhalten in Ägypten bisher keinen Geflüchtetenstatus: Wer nicht evakuiert wurde, ist mit einem Touristenvisum eingereist. Dadurch haben sie zu vielen Hilfeleistungen gar keinen Zugang, die einem als geflüchtete Personen normalerweise zustehen.
Deshalb auch die Situation in dem Haus, in dem ihr den alten Mann getroffen habt?
Mimi: Ja. In dem Haus saßen wir auch noch mit einigen Frauen zusammen. Da war eine Frau mit ihrer Schwester, sie hatten ihre komplette Familie, ihre Kinder, ihren Mann und die eine von ihnen ihren Arm verloren. Eine andere Mutter mit zwei Kindern, hatte ihre anderen Kinder in Gaza verloren. Ebenso wie ihren Mann und ihre Schwiegereltern. Ihre große Tochter lag eine lange Zeit im Koma. Die Ärzte meinten, sie könnten nichts mehr für sie tun. Dann waren sie auf dem Weg zu ihrer Beerdigung. Sie waren wirklich auf dem Weg, das nächste Kind beerdigen zu müssen. Währenddessen stellte ein Onkel eine Bewegung fest – einerseits ein Wunder für die Mutter. Aber was für ein Horror, weil es schon gar nicht mehr die Möglichkeit gibt, die Menschen adäquat zu versorgen oder überhaupt festzustellen, ob sie noch leben!
Diese furchtbare Lage der Geflüchteten aus Gaza kann man sich wirklich kaum vorstellen. Wie können sich die Palästinenser:innen dann in einer solch riesigen Stadt wie Kairo zurechtfinden?
Lisa: In Kairo gibt es zwei Stadtteile, in denen die Geflüchteten hauptsächlich wohnen. Der eine ist neu, da werden ständig neue Häuser hochgezogen. Der andere Stadtteil ist teilweise stark heruntergekommen. Ich war schockiert. Es gibt keine Straßen, nur Dirt Roads und Häuser bei denen man denkt, sie klappen gleich zusammen. Weil wir mit Leuten unterwegs waren, die sich auskannten, haben wir uns sicher gefühlt.
Einmal haben wir aber zwei Frauen besucht, sie waren sehr jung. Sie wurden medizinisch evakuiert, weil eine von ihnen Krebs hatte. Sie hatten drei Kinder bei sich. Gemeinsam haben sie in zwei komplett heruntergekommenen Zimmern gewohnt. Beide Ehemänner waren gestorben seit sie Gaza verlassen hatten. Ich habe sie sofort gefragt, ob sie sich hier sicher fühlen. Sie haben gesagt, wenn sie zu zweit sind, fühlen sie sich sicher, aber allein nicht. Da sie niemanden kennen, müssen sie alles immer gemeinsam machen. Für jede kleine Besorgung müssen sie alle Kinder mitnehmen. Aber innerhalb der Wohnung fühlen sie sich immerhin sicher.
Was habt ihr in Kairo noch erlebt?
Lisa: Ich bin in die Situation sehr selbstbewusst reingegangen, weil ich schon lange im Kontext Flucht gearbeitet und bereits viele schlimme Geschichten gehört habe. Ich dachte, ich würde gut damit umgehen können, die Geschichten der Geflüchteten aus Gaza zu hören. Und trotzdem hat es mich schon schwerer getroffen als erwartet. In einer Familie ist der Vater in Gaza gestorben, die größte Schwester wurde so stark verletzt, dass sie jetzt querschnittsgelähmt ist und eine ganz spezielle Behandlung braucht. Deshalb wurde sie mit ihrer Mutter in die USA evakuiert. Jetzt sind die vier verbleibenden Kinder alle in Ägypten und die älteste Schwester muss mit 20 Jahren auf die drei jüngeren aufpassen. Man hat gespürt, wie die Last diese Geschwister einfach total erschöpft, entmutigt und verängstigt. Immerhin haben sie ein Dach über dem Kopf.
Werden den Kindern, oder den beiden Frauen aus der Erzählung davor, ihre Wohnungen gestellt?
Lisa: Nein, auch diese müssen sie selbst bezahlen. Aber es gibt zum Beispiel Facebook-Gruppen, in denen sich die Community aus Gaza helfen kann, Wohnungen zu bekommen.
Mimi: Man muss sich auch vor Augen halten, wie die Leute in Gaza in den letzten 16 Jahren gelebt haben. Viele Leute von dort sind nie verreist, besonders die weniger privilegierten Menschen. Man ist nochmal viel mehr in seinem engen Kulturkreis verwurzelt. Das ist dann nochmal schwieriger, woanders hinzumüssen. Und dann haben die Leute hier gemeinsam so ein schwerwiegendes, kollektives Trauma, was nochmal oben drauf kommt.
Das Trauma ist natürlich kaum vorstellbar.
Lisa: Eine Frau, die mit fünf Kindern in Kairo war, war die zweite Frau ihres Mannes. Ihr Mann ist gestorben. Die erste Frau des Mannes ist gestorben. Und fünf der Kinder der ersten Frau sind gestorben. Sie war mit der letzten überlebenden Tochter der ersten Frau und mit ihren eigenen vier Kindern allein in Kairo. Diese Kinder waren so verunsichert. Sie konnten mir kaum in die Augen gucken, weil sie zu verschreckt waren. Bei jedem kleinsten Geräusch zuckten sie zusammen oder fingen an zu weinen. Sie konnten gar nicht rausgehen, weil Autos zu laut waren. Ich habe versucht, mit ihnen Quatsch zu machen und zu spielen, aber sie konnten das gar nicht. Sie haben keine kindliche Unbeschwertheit mehr. Hinzu kommt das fremde Land. Dieser Warte- und Schwebezustand, nicht zu wissen, was als nächstes kommt, das ist unbeschreiblich kräftezehrend. Sie sitzen rum und warten, aber worauf eigentlich?
Wie haben die Geflüchteten aus Gaza mit euch über Perspektiven gesprochen? Auf welcher Ebene schauen sie in die Zukunft? Oder ist das bei anhaltendem Leid zuhause gar nicht möglich?
Lisa: Alle der Geflüchteten aus Gaza, mit denen wir gesprochen haben, sagen grundsätzlich: “Hoffentlich ist es bald vorbei und wir können bald wieder zurück”. Eine junge Frau und ihre gesamte Familie hat ein Visum für Kanada bekommen, will aber lieber in Ägypten bleiben, weil es näher an zu Hause ist. Sie ist 19 und bleibt alleine in Ägypten. Es wird wenig realistisch darüber geredet, was als nächstes passieren wird, sondern es ist viel mehr Wunschdenken: „Eines Tages werde ich dich in mein Haus in Gaza einladen“.
Mimi: Das ist auch der Palästinensische Stolz, die Stärke und Resilienz.
Wie geht es euch nach all dem?
Mimi: Durch die ganzen Leute, die ich treffe und Freundschaften, die ich vor Ort schließe, wird diese Arbeit für mich noch wichtiger und noch persönlicher und ich bin wahnsinnig dankbar, dass wir etwas tun können. Es geht einfach um die Menschen, den Kontakt von Mensch zu Mensch.
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